Día de la Musica: Recuérdame

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Coco - Lebendiger als das Leben

Seit seinen Anfängen in den 90er Jahren hat das Studio Pixar Pionierarbeit im Bereich des Animationsfilms geleistet. Auch der neuste Streich der Animateure, "Coco", macht da keine Ausnahme. Doch werden es kaum die erneut bahnbrechenden Erweiterungen des Trickfilm-Repertoires sein, für die man sich an ihn erinnern wird. Viel mehr leisten Regisseur Lee Unkrich und sein Team ein fantastisches Musterbeispiel für detailverliebtes und mitreißendes Storytelling. Und so überrascht es kaum, dass die Story um den mexikanischen Jungen Miguel, der davon träumt, Musiker zu werden, es aber dank seiner Musik ablehnenden Großmutter nicht sein darf, eine der erwachsensten und nachdenklichsten Erzählungen des Kinojahres geworden ist. Und eine der großen Symboliken. Miguel, der erste lateinamerikanische Pixar-Protagonist, geht am Día de los Muertos, dem Tag der Toten, an dem die verstorbenen Vorfahren ihre Nachkommen besuchen dürfen, nämlich den umgekehrten Weg - und landet somit im Reich der Toten.

"Coco" ist einer der seltenen Filme, nach denen man im Kino aufstehen und applaudieren möchte, es aber nicht könnte, da man noch eine zeitlang damit beschäftigt ist, was man gerade gesehen hat zu verarbeiten. Befürchteten Kritiker noch, Pixar könnte bei der Darstellung der mexikanischen Kultur auf plumpe Klischees setzen, so offenbart "Coco" gerade nicht den befürchteten amerikanischen Blick auf fremde Traditionen. Respektvoll, aufrichtig und mit höchster Ernsthaftigkeit zeichnet der Film ein Portrait des mexikanischen Alltags, um es dann in größtmöglicher audiovisueller Pracht mit der dem Genre anhaftenden Aberwitzigkeit kollidieren zu lassen. Die Darstellung des Reichs der Toten, welches Miguel über eine gigantische Brücke aus Millionen Blütenblättern erreicht, ist einer der präzisesten Fälle von "World Building", die das Kino in den letzten Jahren erblicken durfte. Mit entwaffnender Einfachheit etabliert Unkrich eine Welt jenseits unserer physikalischen Relationen, und schafft es vorbildlich, nur über die Bilder zu kommunizieren, wie dieses eigene Universum funktioniert. Das Design der Welt ist schlicht vortrefflich eindrucksvoll. Riesige Türme mit steigender moderner Architektur erstrecken sich bis zur Unendlichkeit in den Himmel (die neuen Toten bauen eben oben auf), Alebrijes (bunte surreale Tiergestalten) im Stile mexikanischer Künstler wie Pedro Linares oder Bertha Cruz bevölkern den Himmel und gewaltige Konzerthallen sind aufgebaut wie Ruhmeshallen der verstorbenen Stars, die in ihnen auftreten.

Um einen eben solchen rankt sich auch die Story. Miguel, frisch und verwirrt im Reich der Toten angekommen, will sein großes musikalisches Vorbild, Ernesto de la Cruz, aufspüren, um mit dessen Hilfe rechtzeitig vor Ablauf des Totentages das Totenreich wieder zu verlassen. Wie immer bei Pixar entfaltet sich nach etablierter Prämisse eine episodisch funktionierende Odyssee, auf der Miguel besonders sein Hund Dante und das Skelett Hector zur Seite stehen. Doch glaubt man anfangs dieses auf den ersten Blick altbekannte Figurentrio zu durchschauen, entlarvt gerade der vermeintliche Comic relief Hector eine ungewohnte Tragik, die mit erschütternder Konsequenz ausgespielt wird. So selbstbewusst Unkrich die einzelnen Episoden (die Miguels Reifeprozess visualisieren) im Totenland ausspielen mag, sei dies nun eine irrwitzige Verfolgungsjagd auf den Rücken der Alebrijes oder eine brillante Sequenz, die den volkstümlichen Surrealismus der Malereien von Frida Kahlo mit Elementen der Epoche der Neuen Sachlichkeit vermischt und parodiert, so ernst nimmt er sich die Thematik vor. "Coco" ist mehr als ein Film über das Sterben, er ist auch ein Film über das Gestorben sein und über das, was noch von einem bleibt. Der Titelsong "Remember Me", der von verschiedenen Charakteren jeweils ganz eigenwillig interpretiert wird, spiegelt die Idee textlich wunderbar wieder: "If you close your eyes and let the music play | Keep our love alive, I'll never fade away"...

Schon Bertolt Brecht wusste: "Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt." Dieser simple Gedanke, in den Erinnerungen der Nachwelt (sei es im Andenken der Familie oder als Prominenter in den Erinnerungen der Fans) weiter zu leben, ist direkt den Traditionen am Día de los Muertos entliehen. Auf der Ofrenda, einer Art rituellen Totenaltar, platzieren die Mexikaner Bilder verstorbener Personen, derer sie gedenken möchten. Ohne diese Fotos bleibt den Toten der auf den Tag begrenzte Zugang zur Welt der Lebenden verwehrt - sie sind vergessen worden. Mit unglaublicher Sensibilität weiß "Coco" die Angst, vergessen zu werden, zu behandeln und damit die Wichtigkeit familiären Zusammenhalts besser zu betonen, als es vielen Kinderfilmen der letzten Jahre gelungen ist. Zumal dies alles im Rahmen einer actionreichen, turbulenten und wunderbar ausschraffierten dramaturgischen Geschichte stattfindet. Das liegt auch in der Konsequenz der Erzählungen begründet: Tragische bis ungemein düstere Passagen wechseln sich mit heiter vergnüglichen ab, über den Tod darf hier nicht nur gelacht werden, man muss sogar unweigerlich. Der Día de los Muertos ist schließlich kein Trauertag, sondern ein festlicher. Es ist nicht der Verlust, der den Tag prägt, sondern das Gefühl des Zusammenhalts zu seinen Ahnen und den Menschen, die einen nahestehen. Selten sah man eine autochthone Kultur so ernst in einer großen US-Studioproduktion behandelt - und das ist auch 2017 noch lange keine Selbstverständlichkeit.

Fazit: Michael Giacchino setzt im Soundtrack auf Quijadas, Jaranas und Guitarróns, die Designs sind mexikanischen Cartoonisten wie Lalo Alcaraz nachempfunden, die Sprecher allesamt mit Mexikanern besetzt. Alle Sorgen waren also unbegründet. Pixar gelingt ein makelloser Animationsgenuss, der die indigenen Bräuche ernst genug nimmt, um sie nicht als Setting zu missbrauchen, sondern am Ende viel mehr auf ein Plädoyer für kulturelle Vielfalt und das Wahren von Traditionen setzt, nicht zuletzt angesichts dessen, dass insbesondere der Tag der Toten im Zuge moderner Richtungen wie Halloween immer stärker als bedroht gilt. Ganz zum Schluss erlaubt es sich der Film dann, auf einer ruhigen, sinnlichen Note zu enden, die das Meisterwerk perfekt macht. Hier werden alle Altersgruppen gleichermaßen berührt wie unterhalten. Eltern, die mit ihren Kindern ins Kino gehen wollen, sollten sich jedoch genau überlegen, wie viel dramatische Intensität sie ihren Sprösslingen zumuten wollen - und wie viele Fragen über Leben und Tod, denen man eigentlich lieber ausweicht, sie hinterher bereit sind, zu beantworten.

10/10
https://filmduelle.de/

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Re: Disney, Zeichentrick und Animation

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iHaveCNit: Coco (2017)

Wenn einem im Erholungsurlaub das Gefühl erheblich geringer Auslastung überkommt, da tut man hin und wieder etwas, um die freie Zeit für irgendwelche Aktivitäten zu nutzen, egal was – da ich Bock auf Filme habe, aber für den Kinostart 30.11.2017 eigentlich nichts geplant habe, kam ich auf „Coco“, den neuesten Film aus dem Hause Disney und Pixar. Selten hat mir ein spontaner Filmbesuch so Spaß gemacht wie dieser hier, weil ich nichts an „Coco“ auszusetzen habe.

Wir befinden uns irgendwo in Mexiko. Der junge Miguel lebt in einem Dorf und hegt die Faszination für Musik und den berühmten Musiker Ernesto de la Cruz. Doch ein einschneidendes Ereignis vor einigen Generationen in seiner Schusterfamilie hat das Verhältnis zur Musik so zerstört, dass im jegliche musikalische Aktivität verboten wird. Als er am Fest des „Tag der Toten“ an einem Talentfest teilnehmen will, will er die Gitarre seines Idols aus dessen Mausoleum auf dem Friedhof entwenden. Prompt landet er durch Zufall im Land der Toten und muss bis zum Sonnenaufgang wieder den Segen erhalten, unter den Lebenden wandeln zu können, um nicht selbst zu sterben. Eine aufregende Reise in die Vergangenheit seiner Familie beginnt.

Nun nimmt sich Disney und Pixar nach unendlichen Ausflügen in unterschiedlichste Regionen der Geschichte, Gesellschaft, Mythologie nun auch der mexikanischen Kultur an. Der „Dia de los muertos“ (Tag der Toten) ist ein fest verwurzeltes Fest, in dem die Mexikaner ihren Verstorbenen gedenken, das mit unglaublichem Aufwand und Maskerade gefeiert wird. Das Fest schwappt auch so langsam auch nach Europa, wo es zumindest einige Veranstaltungen in der Vergangenheit gab, von denen ich gehört, aber noch keins besucht habe. Am stärksten wurde dieses Fest vor allem durch eine kurze Szene in „Batman v Superman: Dawn of Justice“ und die unglaubliche Eröffnungsszene im 24. Bondfilm „SPECTRE“ einem weltweiten Publikum zugänglich gemacht, auch wenn das Setting natürlich nur oberflächliches Beiwerk bleibt. Zum Glück holt „Coco“ das nun nach und das auf der respektvollsten und ehrwürdigsten Art. Rein optisch ist der Film Gold wert und so unendlich bunt und lebendig, so dass man sich kaum satt sehen kann. Auch die Charaktere und die Hintergrundgeschichte ist so intelligent und reichhaltig gestaltet, dass die Welt, die wir hier durch die Augen des jungen Miguel bereits lebendig ist, wenn wir diese betreten. Die einfachen Mittel des Films sind extrem klug durchkonstruiert wie seine Geschichte und auch die Thematik des Films, die mit dem Tod, dem Gedenken und Vergessen schon unglaublich erwachsen ist, aber nie so schwer ist, dass die jungen Zuschauer damit überfordert werden. Selbst Charaktere, die erst den Anschein erwecken, Comic Relief und nerviger Side-Kick zu sein, bekommen einen wichtigen Part im Film. Auch die Musik, die im Film eine zentrale Rolle einnimmt, ergänzt den Film zu seiner Perfektion. „Remember Me“ bzw. im deutschen „Denk stets an mich“ ist zwar kein „Let it Go“ - aber in seiner Bindung zum Filmthema ein perfekter Filmsong. Da ich mich immer gerne an einen geliebten Menschen in meinem Leben erinnere, so hat mich der Film dahingehend auch persönlich bekommen.

„Coco“ - My First Look – 10/10 Punkte.
"Weiter rechts, weiter rechts ! ..... "

Re: Disney, Zeichentrick und Animation

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Starke Kritiken, da bin ich gespannt. Bei Disney hinke ich sehr stark hinterher. Big Hero 6 oder Vaiana und alles steht Kopf kenne ich bisher noch nicht.

Letztens dafür Maleficent noch einmal gesehen. 7/10 sind das schon. Schnörkellos erzählt, passende Portion Kitsch und durchaus ansprechende Darstellerleistungen. Optisch war das auch sehr nett. Cinderella ist trotzdem besser. :D

Re: Disney, Zeichentrick und Animation

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Bei Coco verpasst du aber etwas, guck den unbedingt! Maleficent mochte ich übrigens auch, finde den von der Erzählperspektive angenehm unverbraucht. Cinderella hätte es nicht unbedingt gebraucht, aber der Film sieht sensationell aus und ist wunderbar besetzt. Also auch sehr gut zu gucken, zumal der so unverhohlen offen die volle Kitsch-Dröhnung losballert, dass man ihn dafür schon wieder mögen muss.
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Re: Día de la Musica: Recuérdame

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Casino Hille hat geschrieben:Coco - Lebendiger als das Leben
Hier werden alle Altersgruppen gleichermaßen berührt wie unterhalten.
Si Amigo, soeben gesehen - ich würde 9/10 geben!
Casino Hille hat geschrieben:Eltern, die mit ihren Kindern ins Kino gehen wollen, sollten sich jedoch genau überlegen, wie viel dramatische Intensität sie ihren Sprösslingen zumuten wollen - und wie viele Fragen über Leben und Tod, denen man eigentlich lieber ausweicht, sie hinterher bereit sind, zu beantworten.
:roll:

...ich werde berichten...
❤️☮️🧘🏻‍♂️

Re: Disney, Zeichentrick und Animation

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GoldenProjectile hat geschrieben:
Nico hat geschrieben:War nur froh, alleine im Saal gewesen zu sein.
Stimmt gar nicht. Bei dir kommt doch immer der Eismann.
Wenn ich alleine im Saal bin, ja eben nicht...
Casino Hille hat geschrieben:Man muss sich seiner Tränen nicht schämen, Nico. Es ist okay. Lass los.
:oops:
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