Re: Der David Lean Thread

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Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich bis vor kurzem den Großteil von Leans Werk gar nicht kannte – Grund genug also die weissen Stellen im Oevre des Großmeisters bei den Hörnern zu packen und in einem (sich zugegebenermaßen über mehrere Wochen hinziehenden) Rutsch abzuarbeiten. Diese Rundreise durch die ersten elf Lean-Filme war nicht nur äusserst erkenntnisreich, sondern hat vor allem auch richtig viel Spass gemacht. Besonders interessant war für mich dabei, wie mühelos sich Lean in den unterschiedlichsten Genres bewegt und dennoch immer eine sehr eigene Handschrift erkennen lässt. Auch kann ich dem Kollegen Maibaum vollumfänglich Recht geben wenn er sagt, dass einige von Leans frühen Filmen zu seinen stärksten gehören. Hier ein kleiner Kurzabriss in Sichtungsreihenfolge:

1946: Geheimnisvolle Erbschaft (Great Expectations)
Mit bemerkenswertem Gespür für Atmosphäre und visuelle Gestaltung bringt Lean den Dickens Roman mit großem Aufwand zum Leben. Lean mischt Abenteur, Drama und sogar Anleihen des Horrorfilms zu einer sehr unterhaltsamen Melange. Zudem toll gespielt und besetzt – auch wenn der formidable John Mills mit fast Vierzig für einen 18jährigen eigentlich ja viel zu alt ist.
8,5 / 10

1945: Geisterkomödie (Blithe Spirit)
Lean inszeniert die Vorlage von Noel Coward im Stil einer Boulevard-Komödie mit einer ganzen Reihe an sehenswerten Trickeffekten und munter agierenden Darstellern (besonders Rex Harrison und Margret Rutherford). Blithe Spirit kann allerdings nie so ganz seinen Bühnenhintergrund ablegen und leidet auch etwas – wie fast alle von Leans Kollaborationen mit Coward – an den geschwätzigen Dialogen. Dennoch ein harmloser Spass.
6,5 / 10

1950: Madeleine (Madeleine)
Ähnlich wie Great Expectations weiss auch Madeleine durch seine unheilschwangere Atmosphäre zu überzeugen. Lean meistert hier problemlos den Schwenk vom Beziehungs- und Gesellschaftsdrama der ersten Hälfte hin zum lupenreinen Gerichtsfilm mit Thrillerelementen in der zweiten Hälfte des Films. Auch hier wieder erstaunlich, dass Lean die Titelrolle mit (seiner damaligen Angetrauten) Ann Todd um mehr als 20 Jahre über dem Rollenalter besetzt hat – aber auch diesmal funktioniert dies ohne Probleme aufgrund der Qualität von Miss Todd.
8 / 10

1945: Begegnung (Brief Encounter)
Auch beim Liebesdrama Brief Encounter trifft Lean in Punkto Atmosphäre den Nagel vollständig auf den Kopf, dieses Mal aber nicht stark romantisierend wie beispielsweise bei Great Expectations, sondern äusserst nüchtern und realistisch. Celia Johnson und Trevor Howard sind fantastisch in ihren Rollen als jeweils gebundene und mit ihren Gefühlen kämpfende Liebende, die melancholische Geschichte ist von Lean spannend, emotionsgeladen und visuell sehr einfallsreich in Szene gesetzt.
9 / 10

1942: In Which We Serve
Ausgerechnet mit Leans Abstecher in mein Lieblingsgenre – dem Kriegsfilm – wurde ich nicht wirklich warm. Leans Regiedebut über den „Werdegang“ eines Kriegsschiffes und seiner Besatzung ist leider durchgängig sehr episodenhaft und die einzelnen Passagen wissen inhaltlich nur selten wirklich zu überzeugen, nicht zuletzt wegen der typisch Cowardschen Geschwätzigkeit. Der dramaturgische Kniff die Szenenreihenfolge nicht chronologisch, sondern weitgehend ungeordnet als Flashbacks der einzelnen Besatzungsmitglieder darzureichen ist bemerkenswert, verstärkt aber leider die starke Fragmentierung. Immerhin: tricktechnisch ist In Which We Serve wirklich aller Ehren wert.
5 / 10

1949: Die große Leidenschaft (The Passionate Friends)
The Passionate Friends geht fast ein bisschen als eine Art Remake von Brief Encounter durch: wiederum zwei gebundene und mit ihren Gefühlen kämpfende Liebende, zumal auch hier wieder Trevor Howard mitmischt. Dennoch unterscheiden sich beide Filme in vielen Details, aber auch in grundlegenden Dingen sehr stark von einander. Die Liebesgeschichte in The Passionate Friends deckt einen wesentlich längeren Zeitraum ab, der Hintergrund ist wesentlich mondäner und exotischer, entsprechend ist die (auch hier wieder fabelhaft eingefangene) Atmsophäre hinsichtlich der problembehafteten Story eher kontrastierend als unterstützend. Zudem wächst die Liebesgeschichte hier zu einer echten „menage-a-trois“ aus und hat (nicht nur) durch die Besetzung der Rolle des Ehemannes mit Claude Rains sogar ein paar Parallelen zu Notorious. So oder so: The Passionate Friends weiss durchgängig zu überzeugen, gerade auch aufgrund der nahezu makellosen und enorm einfallsreichen Inszenierung und steht dem „Original“ praktisch in nichts nach.
9 / 10

1948: Oliver Twist (Oliver Twist)
Oliver Twist ist stilistisch fast eine Doublette der zwei Jahre früher entstandenen anderen Dickens-Verfilmung Great Expectations. Auch wenn Lean eine beeindruckend dichte Atmosphäre zaubert, so konnte mich seine Oliver Twist-Variante trotz aller inszenatorischer Kunstfertigkeit in Summe nicht ganz so beeindrucken, vor allem weil die Dramaturgie in der zweiten Hälfte etwas vor sich hinplätschert. Dennoch immer noch ein sehr ordentlicher Film, bei dem die einzelnen Teile aber mehr zu gefallen wissen als das große Ganze. Ach ja, Alec Guinness als Fagin ist brillant, gerade auch aufgrund des kaum denkbar größeren Kontrastes zu seiner Rolle in Great Expectations.
7,5 / 10

1952: Der unbekannte Feind (The Sound Barrier)
Mit The Sound Barrier, welche sich um die Erforschung des Überschallfluges dreht, kombiniert Lean Fliegerfilm mit Familiendrama. Interessant ist, wie Lean mehrfach den Fokus der Geschichte zwischen den einzelnen Protagonisten hin- und herwechselt. Dabei kann er sich ganz auf eine stark agierende Besetzung verlassen, wie auch die Flugszenen und Trickeffekte zu überzeugen wissen. Ein bisschen mehr Pepp und vor allem im Schlussdrittel etwas weniger Pathos wären dennoch wünschenswert gewesen.
7 / 10

1944: Wunderbare Zeiten (This Happy Breed)
This Happy Breed zeichnet die Chronik einer Familie über 20 Jahre zwischen den beiden Weltkriegen. Wiederum auf einer Vorlage von Noel Coward basierend kämpft auch dieser Lean-Film zuweilen mit der extrem wortlastigen Vorlage. Vielleicht tue ich mich als nicht englischer Muttersprachler hier auch einfach zu schwer mit den im MG-Takt abgefeuerten Dialogen, um deren sprachliche Qualität wirklich würdigen zu können. Dramaturgisch und darstellerisch konnte mich hingegen This Happy Breed durchaus überzeugen, auch weil der Film gelungen die Entwicklungen innerhalb der Familie mit denen der britischen Gesellschaft verknüpft und so wichtige geschichtliche Meilensteine integriert.
7 / 10

1954: Herr im Haus bin ich (Hobson’s Choice)
Hobson’s Choice ist eine turbulente Komödie um einen tyrannischen Vater und seine widerspenstigen Töchter, in welchen Lean nicht selten Anleihen bei klassischen Screwball-Komödien macht. Entsprechend hoch ist zumeist das Tempo und es steht der permanente Dialog-Schlagabtausch im Zentrum. Die Darsteller sind grossartig, allen voran „Unikum“ Charles Laughton und der wunderbar den Einfaltspinsel gebende John Mills. Ein leichter Tempo- und Qualitätseinbruch im finalen Akt verhindert einen sogar noch größeren Spass.
7,5 / 10

1955: Traum meines Lebens (Summertime)
Nochmal ein Liebesfilm, aber auch hier geht Lean wieder komplett in eine andere Richtung als in seinen diesbezüglichen Vorgängerfilmen. Summertime ist über weite Strecken federleicht und gleicht in seinem romantisierenden Portrait von Venedig nicht selten dem praktisch zeitgleich entstandenen To catch a thief. Lean gelingt es auf grandiose Art und Weise in seinem Film ein mediteranes Urlaubsgefühl zu vermitteln, wunderbar festgehalten in leuchtenden Farben. Ebenfalls ganz grossartig agiert Katharine Hepburn in der Hauptrolle als einsame Venedig-Urlauberin, die ihrem Traum von der großen Liebe nachjagt (oder auch nicht). Trotz aller Leichtigkeit gehen Lean auch die melancholischeren Momente der Geschichte mühelos von der Hand und so erweist er sich auch hier wieder als echter Meister des Liebefilms.
8,5 / 10
"Ihr bescheisst ja!?" - "Wir? Äh-Äh!" - "Na Na!"

Re: Der David Lean Thread

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AnatolGogol hat geschrieben:Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich bis vor kurzem den Großteil von Leans Werk gar nicht kannte
Um dich von der Schande reinzuwaschen hättest du aber die Filme gar nicht gucken müssen. Du hättest nur herauskriegen müssen, dass ich noch gar keinen Lean-Film gesehen habe. Ups...
We'll always have Marburg

Let the sheep out, kid.

Re: Der David Lean Thread

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@Anatol


Deine Eindrücke decken sich in vielem mit den Beschreibungen des Autoren Kevin Brownlow in dem umfangreichen über 800 Seiten gehenden Werk "David Lean: A Biography", welches ich vorletzten Monat gelesen habe.
Man ist sich in der Bundesrepublik Deutschland wenig bewusst, dass David Lean in der Liste mit den hundert größten britischen Filmen des 20 Jahrhundert "(BFI Top 100 British films) als Rekordhalter mit sieben Werken vertreten ist.
Weltweit berühmt wird er eigentlich erst zu einer Zeit, in der er fast auf die Fünfzig zuging: als Meister großer Film-Epen, wobei die Genre-Applikationen "Liebesfilm" und "Melodram" nachweislich vorher großen Bestand innerhalb seines Œuvre aufwiesen. In Kombination mit dem Anspruch, den Zuschauern die eingebundenen Filmschauplätze so nahe zu bringen, als wenn diese sie selbst vor Ort besucht hätten, sollte dieser besondere Aspekt ab 1955 zu Leans unvergleichlichen Merkmal werden.
Altersstarrsinn, persönliche Verunsicherung durch die Schmähkritiken der Presse und seine Vorstellung, dass der einmalig erarbeitete Ruf in der Filmindustrie einen uneingeschränkten Blankoscheck für zukünftige Projekte auf Lebenszeit darstellen würde, waren mit Grund, dass nach RYAN'S DAUGHTER (1970) eine schöpferische Regie-Pause von 14 Jahren eintrat, in welcher David Lean zwar Projekte entwickelte, wie eine vorgesehene eigene MUTINY ON THE BOUNTY-Verfilmung, die aber in sich scheiterte, bevor schließlich A PASSAGE TO INDIA (1984) ein auch von der Kritik gewürdigter Alterstriumph wurde, in dessen Fahrtwasser auch die Nachfolge-Generation an neuen, großen Regisseuren wie Steven Spielberg und Martin Scorsese es sich nicht nehmen ließ, das nach seinem Start in seiner Laufzeit immer mehr gekürzte Meisterwerk LAWRENCE OF ARABIA neu komplettieren zu lassen und somit ihrem berühmten Vorbild zu huldigen und Referenz zu erweisen, so dass dann eine restaurierte Fassung des Oscar-Films von 1963 rund 26 Jahre danach für kurze Zeit noch einmal in die Kinos kam.
Leans Fähigkeit als Filmeditor und seine oft ungenannte Mitarbeit an den Drehbücher waren die geeignete Basis für seine umfangreichen Regie-Arbeiten, die in vielerlei Hinsicht heute noch wegweisend sind. OUT OF AFIRCA, DER ENGLISCHE PATIENT oder TITANIC sind nur einige Werke, die deutliche DNA-Spuren der Arbeiten Leans aufweisen.


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