High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Angeregt durch die jüngste Diskussion zu SP und dem mi6-hq.com podcast zu diesem Thema:

Wie wichtig ist das Bedrohungsszenario durch den Gegenspieler für die Qualität eines Bond-Films?

Ich würde sagen, es hat fast keine Relevanz. Stellt man eine Einteilung gemessen an der größtmöglichen Bedrohung auf - die Zerstörung der Zivilisation - ergibt sich in etwa folgendes Bild (natürlich offen für Infragestellung):

Sehr große Bedrohung:
YOLT (nuklearer Winter)
OHMSS (Ausrottung der Menschheit)
TSWLM (nuklearer Winter)
MR (Zerstörung der Zivilisation)
OP (nuklearer Winter)
FYEO (Verlust des automatischen Atom-Gegenschlags Computer)

große Bedrohung:
TB (millionenfacher Tod)
DAF (millionenfacher Tod)
TND (Konflikt zwischen China und UK)
TWINE ( u.a atomare Katastrophe)
DAD (Krieg zwischen Nord und Süd Korea)

mittlere Bedrohung:
GF (enorme Finanzkriesen)
AVTAK (Zerstörung von Sillicon Valley)
GE (Finanzkriese)

geringe Bedrohung:
CR (Terrorfinanzierung im größerem Stil)
SP (ungehindertes operieren von Spectre)

sehr geringe Bedrohung:
DN (Sabotage des US Raumfahrtprogramm)
FRWL (Spionageskandal in England)
LALD (Monopolisierung des Drogenhandels)
TMWTGG (Abwendung einer kurzweiligen Energiekriese)
TLD (Geldwäsche eines Waffenhändlers)
LTK (Drogenschmuggel in sehr großem Stil)
QOS (Kontrolle der bolivianischen Wasserversorgung)
SF (Spionageskandal in England)

Sowohl TND, DAD qualifizieren sich mit hoher Wahrscheinlichkeit für größere Bedrohung (nuklearer Krieg). Und auch SP kann, je nach zukünftigen Aktionen von Spectre, größere Bedrohung bedeuten.


Für mich ist schon auffällig, dass eine geringere Bedrohung die Qualität des Filmes geradezu erhöhen kann. Mir scheint, das sich dann die Wahrscheinlichkeit erhöht, das andere Faktoren größere Relevanz in der Entwicklung der Geschichte bekommen, wie z.B. die einzelnen Akteure, ihre Geschichte, Motivationen etc.; Plotpoints; Erzähldichte; realere Szenarien.

Auch die Theorie, ein Bondfilm ist nur so gut wie sein Villian, halte ich für anzweifelbar. TLD ist für mich ein Paradebeispiel.

Was denkt ihr zum einen über die Einteilung und welche Relevanz hat das Bedrohungsszenario für euch?
Zuletzt geändert von SMERSH am 13. Oktober 2019 14:24, insgesamt 1-mal geändert.

Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Diese Gegenüberstellung ergibt nicht so richtig Sinn. Für einen Actionfilm ist es nicht wichtig, wie enorm die Bedrohung ist, sondern das es eine Bedrohung gibt, das es ein festes Ziel gibt und das ein Hindernis gibt, dass der Held überwinden muss / eine Absicht, die der Held stoppen muss. Und je nachdem, wie effektiv du diesen dramaturgischen Baustein integrierst, umso stärker dein Script. Jeder gute Autor wird dir das so erklären. Es ist nicht wichtig, wie groß das Rad ist, an dem du drehst. Es ist nur wichtig, dass du nie vergisst, es zu drehen.
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Ich stimme euch erstmal insofern zu, dass auch ich der Meinung bin, dass die Größe der Bedrohung keine Auswirkung hat auf die Güte des Films.
Nahezu im Gegenteil: All zu große Bedrohungen kommen schnell comichaft, nicht fassbar und daher bedeutungslos daher.

So gibt es ganz einfach zig Beispiele für Bondfilme, in denen das Bedrohungspotenzial minimal ist, aber die weit verbreitete Meinung zum Film sehr positiv ist (z.B. GF, SF oder gar CR)

Es gibt eben viel zu viele andere Faktoren die für den Unterhaltungswert eines Films wichtiger sind.
Wenn man schon Gesetzmäßigkeiten aufstellen will, dann habe ich ja meine eigenen Beobachtungen für solche Indikatoren oder Voraussetzungen:

1) Interessante Charaktere und vor allem deren Interaktionen miteinander (Bond-Goldfinger, Bond-Largo, Bond-Fiona, Bond-Vesper, Bond-LeChiffre...)
2) Actionszenen die die Handlung vorantreiben und nicht bloß aus dem Nichts entstehen und an gleicher Stelle enden
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Ich denke man sollte bei diesem Thema die zeitgenössische Empfindung des Publikums nicht vergessen. Ein atomares Vernichtungsszenario hatte 1963 oder 1983 ein ganz anderes dramatisches Gewicht wie heutzutage, ganz einfach weil es für den Zuschauer wesentlich greifbarer war, da Teil des täglichen Lebens. Im Gegensatz dazu ist dieses Thema für ein heutiges Publikum eher abstrakt und historisch (obwohl die Gefahr ja nachwievor vorhanden ist) und kann daher wie es Daniel richtig schrieb leicht comichaft übertrieben wirken - was es originär aber fraglos nicht war.
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Casino Hille hat geschrieben: 11. Oktober 2019 23:02 Für einen Actionfilm ist es nicht wichtig, wie enorm die Bedrohung ist, sondern das es eine Bedrohung gibt, das es ein festes Ziel gibt und das ein Hindernis gibt, dass der Held überwinden muss / eine Absicht, die der Held stoppen muss. Und je nachdem, wie effektiv du diesen dramaturgischen Baustein integrierst, umso stärker dein Script.
Aber ich denke der Spielraum ist sogar noch größer. Denke ich z. B. an DN und GF dann sind fast alle diese Faktoren recht gering oder lange Zeit unklar.
Ein Ziel worauf Bond hinarbeitet hat jeder Film. Hindernisse und zu stoppende Absichten bei DN und GF minimal greifbar oder lange obskur.
Gerade GF ist hier auffällig minimalistisch. Im Prinzip geht es sehr lange nur darum, wie Bond an Goldfinger ran kommt. Bei DN ist es Bonds Leben, um das wir dankt Informationsvorsprung lange bangen sollen. Aber vielmehr ist es das Mysterium hinter der ganzen Ermittlung, das fesselt.

Mir scheint es auf die Kunst des Erzählens anzukommen. Was die Geschichte interessant macht sind viele kleinste Faktoren im Zusammenspiel. Aber am wichtigsten ist, man ist als Zuschauer oder Zuhörer mit genau dem richtigen Maß an Informationen gefüttert, sodass man sich fragt was wir ausgeht oder als nächstes passiert, was wohinter steckt. Aber alles muss greifbar und verheißungsvoll bleiben.
Und trotzdem: GF schafft es lange Zeit bloß von der Stärke und Interaktion der Akteure sowie Bilder und Atmosphäre zu leben.

Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Aus Storytelling-Perspektive muss ich widersprechen: GF und DN haben sehr früh sehr klare Ankerpunkte, die den Film in eine bestimmte Richtung drücken und die Handlung motivieren. Das ist ja das, was ein früh etabliertes Bedrohungsszenario in einem Actionfilm tun soll: die Handlung und die Charaktere in ihr (besonders den Protagonisten) motivieren. Und DN und GF machen das sehr effektiv: DN eröffnet direkt mit dem Mord an Strangways, den Bond aufdecken soll. Eine sehr konkrete, effektvolle Motivation für Bond und den Plot des Films als solches. GF beginnt mit Bonds Schabernack gegen Goldfinger in Miami, woraufhin die sympathische Jill Masterson auf einprägsame Weise ermordet wird. Diese Szene setzt die Motivation für den restlichen Film. Bond hat eine Motivation (Rache), der Zuschauer ist emotional in den Film involviert. Genau wie der Mord an Strangways sind diese Szenen das Äquivalent zum Bedrohungsszenario, weshalb es auch irrelevant ist, was Dr. No und Goldfinger jeweils in ihren Filmen planen. Das Toppling oder die Fort Know Verseuchung sind später nachgereichte Zugaben, die den Filmen ihre Larger than life Note geben, aber die Filme funktionieren deswegen, weil sie früh die Motivation für Bond klären und der Plot direkt ein klares Ziel verfolgt. Und beide Filme machen es richtig: Sie zeigen uns diese Szenen. DN hätte auch in London damit beginnen können, dass Bond nur davon erfährt, Strangways und seine Sekretärin wurden ermordet. Inhaltlich wäre das genau dasselbe gewesen, aber dramaturgisch wäre der Film daraufhin ziemlich sicher in sich zusammengefallen. Angenommen, nach der Miami Szene hätte Goldfinger Jill Masterson nicht ermordet, sondern Bond wäre nach London gefahren und der Film wäre von dort weitergelaufen: GF hätte das Publikum nie so mitgerissen, wie er es hat. Deswegen predige ich ja im SP-Thread: Ein Bondfilm (aber eigentlich jeder konventionell aufgebaute Action-/Abenteuerfilm) muss früh das Ziel und die Motivation dafür, dieses Ziel zu erreichen, etablieren (innerhalb einer Szene, nicht eines Dialogs, damit der Nachdruck beim Zuschauer ankommt), sonst gibt es ganz schnell Langeweile. Gewissermaßen ist dies das A und O im klassischen Storytelling.
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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SMERSH hat geschrieben: 12. Oktober 2019 10:28 Mir scheint es auf die Kunst des Erzählens anzukommen. Was die Geschichte interessant macht sind viele kleinste Faktoren im Zusammenspiel.
Ex-Akt. Es kommt darauf was daraus gemacht, wie es umgesetzt wird. Da kann das Bedrohungsszenario eine Rolle spielen oder nicht, es kann gross sein oder klein, es kann negativ auffallen, wenn es blöde ist oder auch nicht.

OHMSS handelt im klassischen Sinne nicht im Ansatz davon, dass Blofeld die Welt mit Biowaffen attackieren möchte. Ich würde es nicht Platzhalter nennen wollen, weil ich es dafür viel zu positiv meine, aber Ernst und sein Plan sind im Film eher Archetypen, die die Handlung zusätzlich motivieren und für einen Kontext sorgen, der perfekt funktioniert. Im Kern geht es um Bond, Tracy, und darum, eine Bedrohung zu stoppen, die es dafür natürlich erst geben muss.

LTK und sein Drogenbenzin. Auch nicht wirklich, was Franz da vorhat geht eher leicht in Richtung McG (sorry, Maibaum). Wichtiger ist die Konfrontation Bond vs. Sanchez, der Umstand, dass Sanchez eben der Böse ist. Eigentlich ist das Bedrohungsszenario eher der Angriff auf Leiter. Funktioniert auch perfekt.

OP ist der einzige Bondfilm, bei dessen Bedrohungsszenario ich im richtigen Moment auch mal kurz die Nägel kaue. Bei allen anderen ist eine rasende Atomrakete oder was auch immer eher ein wohliges Kribbeln. Aber der angeblich lächerliche OP setzt das in den richtigen Stellen auch mal etwas anders um.

LALD... Ääh, Heroinmonopol? Könnte egaler nicht sein. Wir haben Bond, Kananga und Solitaire, also den Guten, den Bösen und die ganz und gar nicht Hässliche und es macht Spass ohne Ende, auch ohne wirklich seriöses, geschweige denn tatsächlich greifbares Bedrohungsszenario.

Nur mal so als Beispiele, wie unterschiedlich das funktionieren und begeistern kann, relativ unabhängig davon, was der Schurke auf dem Papier genau vorhat.
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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GoldenProjectile hat geschrieben: 12. Oktober 2019 11:34 Nur mal so als Beispiele, wie unterschiedlich das funktionieren und begeistern kann
Aber all die Beispiele zeigen auch perfekt auf, warum ich sage, der Film muss von Beginn an ein Ziel festlegen.
GoldenProjectile hat geschrieben: 12. Oktober 2019 11:34 OHMSS handelt im klassischen Sinne nicht im Ansatz davon, dass Blofeld die Welt mit Biowaffen attackieren möchte.
Nein, aber der Film beginnt in der PTS mit dieser Szene am Strand. Mit Tracy, die sich umbringen möchte, und die Bond retten will, was ihm gelingt. Danach fährt sie weg, und direkt nach der TS sehen wir Bond vor einem Hotel halten und Tracys Wagen wiederfinden. Das Ziel ist also direkt klar: Bond will Tracy retten, er will herausfinden, was hinter ihrem Suizidversuch am Strand steckt. Und dieses Element "Bond will sie retten", zieht sich durch den ganzen Film. Es wird dann zwar eine Zeit lang unterbrochen, hier wird OHMSS dramaturgisch etwas ungewöhnlich und führt ein neues Zwischenziel ein, aber trotzdem ist OHMSS nie ziellos, von Minute 1 an. So macht man das richtig.
GoldenProjectile hat geschrieben: 12. Oktober 2019 11:34 LTK und sein Drogenbenzin. Eigentlich ist das Bedrohungsszenario eher der Angriff auf Leiter.
Ganz genau. Leiters Verkrüppelung und die Ermordung seiner Frau sind die Motivation für den Film. Was Sanchez vorhat, ist lächerlich egal. Er könnte auch illegal eingeführte Pflanzen in seinem Gartenhäuschen anbauen. Das spielt keine Rolle, denn die Motivation für Bond und den Zuschauer ist jederzeit klar, weil die Szene mit Felix stark genug war, den restlichen Plot zu motivieren (ähnlich wie in GF mit dem Golden Girl).
GoldenProjectile hat geschrieben: 12. Oktober 2019 11:34 OP ist der einzige Bondfilm, bei dessen Bedrohungsszenario ich im richtigen Moment auch mal kurz die Nägel kaue.
Geht mir genauso. Aber auch hier ist das Bedrohungsszenario erst im letzten Viertel wichtig. Davor ist der Mord an 009 die Motivation für die Handlung. Wir folgen ihm Minuten lang auf der Flucht vor den Messerwerfern, sehen die Panik in seinem Gesicht, wie er fast erwischt und dann doch noch von dem Messer hingerichtet wird. Und hinterher erfahren wir: Diese Todesangst, diese Flucht und der Mord - all das für ein Ei? Wir als Zuschauer wie auch Bond sind durch den Mord an 009 motiviert - nicht durch ein abstraktes Bedrohungsszenario (wie es eine Atombombenexplosion nun einmal ist - egal was 1963 oder 1983 auf der Welt los war, auch damals wusste das Publikum: Wenn es im Film Bumm macht, geh ich danach trotzdem unversehrt nach Hause).
GoldenProjectile hat geschrieben: 12. Oktober 2019 11:34 LALD... Ääh, Heroinmonopol? Könnte egaler nicht sein. Wir haben Bond, Kananga und Solitaire, also den Guten, den Bösen und die ganz und gar nicht Hässliche
Aber auch hier wieder: Ohne die drei Morde in der PTS würde LALD lange Zeit enorm langweilen und dramaturgisch nicht funktionieren. Der Film tut richtig damit, uns mit diesen Ermordungen in die Geschichte einzuführen, denn nun gibt es Mystery (Warum wurden diese Leute ermordet?) und etwas, das wir aufdecken wollen. Bond ist davon zugegeben wenig motiviert, LALD kaschiert das aber recht schnell, da schon nach wenigen Minuten ein Mordanschlag auf ihn verübt wird.

Man darf sich an dem Wort "Bedrohungsszenario" nicht zu sehr aufhängen. Und ich habe in SP auch nicht gemeint, dass der Film unbedingt noch eine Atombombe am Ende gebraucht hätte, um für mich spannender zu sein. Aber er hätte von Beginn an ein klares Ziel gebraucht, dass es lange Zeit nicht gibt oder welches lange Zeit zu nebulös bleibt, weil nichts je durch Szenen im Film direkt untermauert wird. Es ist schon überraschend, dass die Botschaft von Judi Dench im Film überhaupt zu sehen ist und Bond von der Nachricht Moneypenny nicht einfach in einem Dialog erzählt, denn mit allen anderen Plot-relevanten Dingen verfährt SP lange Zeit so. Und das ist ein unverzeihlicher, handwerklicher Fehler.
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Casino Hille hat geschrieben: 12. Oktober 2019 11:43 Wir als Zuschauer wie auch Bond sind durch den Mord an 009 motiviert - nicht durch ein abstraktes Bedrohungsszenario (wie es eine Atombombenexplosion nun einmal ist - egal was 1963 oder 1983 auf der Welt los war, auch damals wusste das Publikum: Wenn es im Film Bumm macht, geh ich danach trotzdem unversehrt nach Hause).
Hille, das ist mir zu einfach gedacht. Kein Mensch kann einfach auf Knopfdruck die Realität ausblenden. Wenn man permanent durch Nachrichten und internationale politische Entwicklungen mit der Gefahr einer nuklearen Eskalation konfrontiert wird (und die war gerade direkt nach 1962 durch die Kubakrise sowie in den frühen 80ern durch das Wettrüsten und die sich nach einem Jahrzehnt der (relativen) Entspannung wieder deutlich verschlechterten Beziehung zwischen USA und UdSSR eben sehr real und präsent), dann lässt sich das auch in einem klar als fiktives Eskapismus-Abenteuer erkennbaren Film nicht so einfach ausschalten. Zumal gerade OP trotz aller Albernheiten und Exotik eben sehr bewusst auch mit der Realität flirtet und gerade deshalb das atomare Bederhohungsszenario als Abbild der Realität so gut funktioniert (im Sinne des erwähnten Nägelkauens). A propos Nägelkauen: warum empfindet ihre beiden Mods eigentlich die kurz vor knapp veränderte Flugbahn der atomaren Raketen in TSWLM nicht als ähnlich beunruhigend? Wo seht ihr da konkret den (handwerklichen) Unterschied zur Clown-Entschärfung?
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Beim Lesen des ersten Beitrags habe ich mich gewundert, was OHMSS unter ''Sehr große Bedrohung'' zu suchen hat.
Ein Bondfilm braucht eine Bedrohung, sodass es vernünftig war, die Viren-Geschichte hier einzubauen. Aber wirkliche Relevanz für den Film hat das nicht. Bond, Tracy, Graf de Bleuchamp, großartige Action, das alles reicht für einen gelungenen Film.

FYEO halte ich für falsch eingeordnet. Allgemein wird der Film immer als bodenständig, back to the earth, etc. beschrieben und bezüglich dessen, was wir tatsächlich auf dem Bildschirm sehen, stimmt das auch. Wir sehen keine Raumstation, keinen Supertanker oder ähnliches. Aber immerhin geht es um das ATAC, ein Gerät im Zusammenhang mit dem Einsatz von Atomwaffen. Was das Bedrohungsszenario angeht ist der Film vergleichbar mit TSWLM oder MR.

Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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AnatolGogol hat geschrieben: 12. Oktober 2019 13:10Hille, das ist mir zu einfach gedacht. Kein Mensch kann einfach auf Knopfdruck die Realität ausblenden.
Hab ich doch gar nicht gesagt. Es ist psychologisch aber schlicht erwiesen, dass aus Sicht eines Erzählers groß angelegte Weltuntergangsszenarien nie so effektiv sind wie emotionale Konflikte. Das eine ist schlicht abstrakter als das andere. Es macht auch wenn wir Nachrichten lesen einen Unterschied, ob wir lesen "362 Menschen im Mittelmeer ertrunken" oder ob wir das Bild eines toten Flüchtlingskindes sehen, dass mit dem Gesicht nach unten am Strand liegt. 362 Tote wiegen schwerer als ein totes Kind und unter der Zahl 362 können sich auch viele Kinder verbergen. Aber das eine ist eine Zahl, das andere ein Schicksal. Unser Gehirn funktioniert so. Und das gilt auch für Geschichten und Filme. Eine Atombombenexplosion, da wissen wir natürlich, was das bedeutet und warum das etwas grauenvolles ist. Aber eine Atombombenexplosion in einer willkürlich gewählten Stadt ohne uns im Film bekannte Opfer wird nie so emotional sein, wie der plötzliche Tod einer Figur, die wir zwei Stunden lang begleitet haben, mit der wir mitgefiebert und um die wir gebangt haben. Natürlich gibt es Wege, wie auch eine atomare Bedrohung weniger abstrakt und sehr viel plastischer, greifbarer und mitreißender sein kann. Und natürlich war die Erwähnung eines solchen Szenarios 1983 noch etwas anderes als 2019. Aber das ist nicht der Punkt, wenn es um die Psychologie einer Dramaturgie geht. Das ist auch nicht wirklich einfach gedacht, da steckt schon etwas dahinter, aber das haben viele Menschen herausgefunden und analysiert, die definitiv sehr viel schlauer sind als ich. Übrigens: Die TSWLM-Szene zum Beispiel ist ein herrlicher Nägelkauer, aber auch hier ist das psychologisch betrachtet nicht der Fall, weil unzählige Menschen sterben würden, wenn es schief geht. Sondern weil Bond hier scheitern würde, und weil wir mit ihm fiebern, dass es funktioniert. Und das macht der Film sehr geschickt, durch all die Mittel, die ein Film dafür verwenden kann: Schauspiel, Montage & Musik.
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Casino Hille hat geschrieben: 12. Oktober 2019 13:31
AnatolGogol hat geschrieben: 12. Oktober 2019 13:10Hille, das ist mir zu einfach gedacht. Kein Mensch kann einfach auf Knopfdruck die Realität ausblenden.
Hab ich doch gar nicht gesagt.
Ich bezog mich hierauf:
Casino Hille hat geschrieben: 12. Oktober 2019 11:43 Wenn es im Film Bumm macht, geh ich danach trotzdem unversehrt nach Hause).
Ich hatte das so verstanden, dass der Zuschauer bei einem Vernichtungsszenario nie so beeindruckt werden kann, da er klar zwischen Fiktion und Realität zu unterschieden weiss. Und daher mein Einwand, dass wenn das persönliche Leben direkt oder indirekt durch ähnliche Bedrohungen geprägt wird man bei cineastischen Doubletten diesen Hintergrund nicht einfach wegdrücken kann, auch nicht wenn man sich dessen bewusst ist, dass es sich nur um eine Fiktion handelt. Ansonsten stimmt ich dir vollkommen zu, dass "das kleine Schicksal" immer das "große Schicksal" dramaturgisch schlägt, einfach weil es greifbarer und persönlich nachvollziehbarer ist.
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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AnatolGogol hat geschrieben: 12. Oktober 2019 13:10 warum empfindet ihre beiden Mods eigentlich die kurz vor knapp veränderte Flugbahn der atomaren Raketen in TSWLM nicht als ähnlich beunruhigend? Wo seht ihr da konkret den (handwerklichen) Unterschied zur Clown-Entschärfung?
Schwer zu sagen, der Ton macht halt die Musik. (Das Finale von) TSWLM ist halt der ideale Mix aus Action, Abenteuer, Humor und etwas Spannung, aber eine andere, lockere Art der Spannung, wären es Horrorfilme dann könnte man es mit einem atmosphärisch-wohligen Schauer gegen eine nervenzerfetzende Schreckensszene vergleichen. Die dramaturgischen Variationen der Liparus-Szenen (Konfrontation mit Stromberg, Schlacht, Befreiung, Kamera-Kugel, Umprogrammieren der Raketen) machen Spass ohne Ende, aber ich glaube zu keiner Sekunde, dass da gleich Weltstädte in die Luft fliegen, die lockere Spannung ergibt sich eher aus der Frage, ob Bond die Aufgabe nun schafft, nicht aus den möglichen Konsequenzen, sollte er versagen. Das klingt natürlich widersprüchlich, sich zu fragen ob er es schafft oder nicht, wenn man anhand der möglichen Konsequenzen gar nicht an ein Versagen glaubt, aber so funktioniert TSWLM für mich nun mal, und zwar sehr gut.

In OP steigert und entwickelt sich das Ganze bei der Anreise zum Zirkus immer mehr und die Irrtümer wie die Rotzgören, die Bond an der Strasse stehen lassen und das lachende Publikum tragen sehr wirkungsvoll zum Spannungsbogen bei, ausserdem spielt sich alles unmittelbar im Gefahrengebiet ab, zunächst im weiteren Radius der möglichen Explosion und später buchstäblich neben der Bombe. Auf dem Papier glaube ich da eigentlich auch nicht, dass die Bombe gleich unter Bonds Händen detoniert, aber es wird halt trotzdem stark mit dem Spannungs- und Dramaturgie-Bogen gespielt.

TSWLM ist für mich übrigens der bessere und stimmigere Film als der ebenfalls gute OP, es ging mir nur darum, wie unterschiedlich greifbar das theoretische Bedrohungspotential eingesetzt werden kann.
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Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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Bei all den Aufführungen der Beispiele ergibt sich für mich heruntergebrochen die Notwendigkeit, das es die Möglichkeit zur natürlichen emphatischen Identifikation mit dem Protagonisten gibt und eine greifbare Bedrohung für den Protagonisten direkt. Ziel, Motivation usw. ist dann wieder eine Ueberkategorisierung.
Der Beginn von OHMSS ist das beste Beispiel. Bond scheint etwas an Tracy zu liegen (das können wir emotional verstehen bzw. greifen) und er ist in ihrer Nähe ganz offensichtlich in Gefahr.
Trifft so auch auf DN und GF zu.
Bei SP hat Bond eine Motivation und ein Ziel aber nichts davon ist richtig greifbar, wenn wir einfach zu wenig erfahren oder sehen. Bond läuft mit seinem Wissen die meiste Zeit alleine herum und die Bedrohung ist in Form von Hinx immer unangekuendigt und Form von Oberhauser zu schleierhaft. Ich weiß nicht wo es erwähnt wurde, aber jemand beschrieb Craig Darstellung hier als distanzierter. Ich denke das ist der Grund.
Hätten wir in Rom erfahren, wer dieser Oberhauser ist, bin ich davon überzeugt, das es der Erzählung schon einmal einen boost gegeben hätte und Bond uns näher kommt.
Henrik hat geschrieben: 12. Oktober 2019 13:19 FYEO halte ich für falsch eingeordnet. Allgemein wird der Film immer als bodenständig, back to the earth, etc. beschrieben und bezüglich dessen, was wir tatsächlich auf dem Bildschirm sehen, stimmt das auch. Wir sehen keine Raumstation, keinen Supertanker oder ähnliches. Aber immerhin geht es um das ATAC, ein Gerät im Zusammenhang mit dem Einsatz von Atomwaffen. Was das Bedrohungsszenario angeht ist der Film vergleichbar mit TSWLM oder MR.
Ich kann mich nicht erinnern, wie es in der Realität des Filmes behandelt wurde, aber im Prinzip lassen sich die Raketen vom System natürlich abkoppeln und ein neues Einführen. Sicher sehr ärgerlich und teuer, aber es wäre ja irrsinnig, wenn man für alle Zeit nur uber dieses ATAC die Kontrolle über die Sprengkopfe hätte.

Re: High and Low Stakes - Gewichtung des Bedrohungsszenario für den Film

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SMERSH hat geschrieben: 12. Oktober 2019 21:02Bei all den Aufführungen der Beispiele ergibt sich für mich heruntergebrochen die Notwendigkeit, das es die Möglichkeit zur natürlichen emphatischen Identifikation mit dem Protagonisten gibt und eine greifbare Bedrohung für den Protagonisten direkt. Ziel, Motivation usw. ist dann wieder eine Ueberkategorisierung.
Der Beginn von OHMSS ist das beste Beispiel. Bond scheint etwas an Tracy zu liegen (das können wir emotional verstehen bzw. greifen) und er ist in ihrer Nähe ganz offensichtlich in Gefahr.
Trifft so auch auf DN und GF zu.
Bei SP hat Bond eine Motivation und ein Ziel aber nichts davon ist richtig greifbar, wenn wir einfach zu wenig erfahren oder sehen. Bond läuft mit seinem Wissen die meiste Zeit alleine herum und die Bedrohung ist in Form von Hinx immer unangekuendigt und Form von Oberhauser zu schleierhaft.
Ganz genau, das fasst in aller Kürze noch mal zusammen, was ich im SP Thread und hier versucht habe zu sagen! "Die Notwendigkeit zur natürlichen empathischen Identifikation mit dem Protagonisten" = perfekt. Das sollte immer gegeben sein, denn dann sind wir als Zuschauer involviert. Und damit das stattfindet, muss der Held irgendwie in die Geschehen involviert sein (und zwar mehr, als die Handlungspfade nur abzuklappern). Ich denke auch, SP hätte die Beziehung zu Oberhauser früher klar machen müssen - oder Bond stärker in die Anschläge verwurzeln, wenn er in der PTS etwa gescheitert wäre, einen solchen Anschlag zu vereiteln. Dererlei Dinge sind für einen guten Film unerlässlich. Allerdings: Die Beziehung zu Oberhauser früher klar zu machen, heißt auch, der Film müsste tiefer in diese Beziehung eintauchen und sie erforschen. Es reicht nicht, dass Franz mal kurz erzählt, was einst vorgefallen ist - wir müssen es sehen. Nicht direkt die gemeinsame Kindheit, aber die Sätze im Monolog müssen eine Entsprechung im Film finden. Im Verhalten der beiden gegenüber einander (und zwar auch in Bonds Verhalten).
AnatolGogol hat geschrieben: 12. Oktober 2019 13:47 Ich hatte das so verstanden, dass der Zuschauer bei einem Vernichtungsszenario nie so beeindruckt werden kann, da er klar zwischen Fiktion und Realität zu unterschieden weiss. Und daher mein Einwand, dass wenn das persönliche Leben direkt oder indirekt durch ähnliche Bedrohungen geprägt wird man bei cineastischen Doubletten diesen Hintergrund nicht einfach wegdrücken kann

Ich stimme dir völlig zu, so konnte man meinen unglücklich formulierten Satz absolut verstehen!
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