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von GoldenProjectile
'Q Branch' - MODERATOR
The World Is Not Enough (1999, Michael Apted)
"The World is not enough, but it is such a perfect place to start, my love."
- Garbage
In Pierce Brosnans Lauf als James Bond schienen sich die Filme immer mehr vom teilerneuerten Klassiker zum grossangelegten, glattpolierten Actionspektakel zu steigern. TWINE, der letzte Serienbeitrag im alten Millennium, versuchte diese Entwicklung zumindest teilweise zu unterbrechen. Unter der Federführung des weitgehend ausserhalb vom Actionfach geschulten Michael Apted widmet sich der Film wieder mehr einem komplexeren, charakterorientierten Handlungsaufbau und der Kombination aus handfestem Agentenfilm und ausladendem Bond-Spektakel, wie es vor allem unter der Glen/Wilson-Ägide in den 1980ern gang und gäbe war. Dadurch ergibt sich mit TWINE nicht nur eine interessante Mischung, sondern auch der neben GE typischste und zeitloseste Bondfilm der Brosnan-Ära.
So ist es nicht verwunderlich, dass TWINE die Beziehung zwischen Bond und Bondgirl möglichst gut aufbauen möchte, mit dem Unterschied, dass sich das zentrale Bondgirl dieses Mal als teuflischer Gegenspieler entpuppt. Dieser Kniff ist Drehbuch und Regie weitgehend gut gelungen und variiert ziemlich geschickt die erwartbare Handlungs- und Figurenkonstellation eines typischen Bondabenteuers, weiter erlaubt die Idee Spielraum für einen Gewissenskonflikt Bonds im Kampf gegen eine Schurkin, für die er zuvor romantisches Interesse entwickelt hatte. Zwar geht der Film natürlich nicht so weit, Bond seine Mission oder gar seine Seite in Frage stellen zu lassen, aber alleine der Ansatz eines 007, der sich betrogen und benutzt fühlt und für einmal einen ganz anderen Blick auf seinen Gegenspieler hat, ist so naheliegend, dass man sich bei der Sichtung von TWINE fragen muss, wieso kein anderer Film in fast vierzig Jahren Bondgeschichte auf diese Idee gekommen ist. Zwar dämpft die Geschichte ein wenig die Wirkung und Intensität dieses Handlungskniffs, indem sie Bond selber Verdacht hegen lässt und die Enthüllung Elektras als Bösewicht so eher sachte in die Wege leitet, nimmt sich aber zuvor durch die Lawinenszene und die späteren Momente auf Elektras Anwesen in Baku genügend Zeit, ihre Charaktere für die weitere Entwicklung der Handlung aufzubauen.
Generell ist TWINE anders als sein direkter Vorgänger mehr als ausgewogenes Wechselspiel zwischen Action und ruhigeren, handlungsdienlichen Szenen strukturiert. Der Film startet zwar in der längsten PTS der Reihe mit einer furiosen Bootsverfolgungsjagd, durch die man förmlich ins Geschehen hineingeworfen wird, genauso einvernehmend agieren aber die ebenfalls direkt in den Raum bzw. Film geworfenen Handlungsstränge um Sir Kings Geld, das Attentat und die Entführung seiner Tochter. Apted nimmt sich aber dennoch Zeit, dem in vielen Dingen zweifelsohne sehr auf Bombast und Spektakel setzenden Abenteuer Sinn und einen stimmigen dramaturgischen Unterbau zu verleihen, so dauert es nach (und mit) dem knalligen Opening beispielsweise gefühlt eine eher längere Zeit, bis Bond wirklich aus dem MI6-Hauptquartier (notfallmässig nach Schottland verlegt) herauskommt und seine eigentliche Mission startet. Dass man durch Apteds Regie eher nahe an den Charakteren ist und die kleineren Handlungsbausteine auskosten darf verleiht TWINE gerade gegenüber seinem etwas anonym gebliebenen Hochglanz-Action-Vorgänger deutlich mehr Persönlichkeit.
TWINE wird auch gerne für seine Schauplätze kritisiert und mag weit weg von Postkarten- oder Reiseführerromantik sein, ich finde aber, dass gerade der Dreck und die Tristesse der meisten Handlungsorte dem Film seinen eigenen Charme verleihen. Zentralasiatische Länder wie Aserbaidschan und Kasachstan sind nun einmal keine besonders populären Reiseziele, besonders dann nicht, wenn noch Ölfelder und Atombunker ins Spiel kommen. Für TWINE sind die kargen Landschaften und der Geist der alten Sowjetunion aber gerade richtig und werden sehr stimmungsvoll eingefangen. Selbst vermeintliches Eye-Candy wie das mondäne Istanbul, Elektras Anwesen oder die in allerhand Brücken und Stegen verzweigte Kaviarfabrik Zukovskys behalten ihre raue und düstere Ausstrahlung. Zum Ausgleich gibt es in der Skiszene aber auch winterliche Bergpanoramen, wie man sie als Bondfans seit TSWLM nicht mehr gesehen hat.
Die Actiondichte des Films erscheint im Vergleich zum Vorgänger deutlich tiefer und die Geschichte mehr auf ruhige Szenen ausgerichtet, was erstaunlich ist, weil auch TWINE mühelos ein gutes halbes Dutzend mittelgrosser bis grosser Actionszenen auffahren kann. Einige davon wecken Erinnerungen an vergangene Bond-Abenteuer, so ist natürlich die fulminante Bootsverfolgung auf der Themse in der PTS eine Reminiszenz an LALD, nicht zuletzt durch die Zweckentfremdung des Bootes, welches auch abseits des Flusses einen ordentlichen Blechschaden anrichten darf. Die Skiszenen in Aserbaidschan wiederum ähneln der Piz-Gloria-Abfahrt aus OHMSS, wobei der Eingriff der bewaffneten Parahawks natürlich eine schöne Variation darstellt. Vom unterirdischen Atomwaffenlager bis zur Keilerei im U-Boot, von der Bombenentschärfung in der Pipeline bis zum Angriff der Riesensägen auf die Fabrik – die Actionszenen sind schmissig in Szene gesetzt, auch weil Apted mehr Variationen einbaut statt nur auf automatisches Dauerfeuer zu setzen und er die Stunts und Explosionen weitgehend elegant in den Bildaufbau einzubetten weiss. Zu den besten Actionszenen der Serie zählt für mich trotzdem keine einzige in TWINE, weil unterm Strich trotz aller Vorzüge immer ein wenig die zündende Idee oder der letzte grosse Schliff fehlt.
Die Besetzung ist weitgehend gelungen. Brosnan gibt in TWINE seinen bisher stimmigsten und rundesten Auftritt als Bond, seine etwas glatte und unnahbare Interpretation der Doppelnullrolle geht in vielen Szenen schön auf und droht nicht mehr in den gelackten Snobismus abzugleiten, mit dem mir Brosnan in manchen Szenen anderer Filme etwas zu sehr liebäugelt. Besonders die Todesszene von Elektra ist bemerkenswert gut gespielt, einer der schauspielerisch besten Momente eines Bond-Darstellers überhaupt, mehr sogar das unmittelbare "I never miss" als der anschliessende Moment. Elektra selber wird von Sophie Marceau natürlich vorzüglich zum Besten gegeben, die unterschiedlichen Facetten der Figur verkörpert sie meisterhaft, diese Mischung aus reizender Verführung und eiskalter Bosheit, die in der Folterszene eine geradezu widerwärtige Mischung eingehen. Robert Carlyles Renard taucht vergleichsweise wenig auf, aber wenn er auftritt wie in der Szene im kasachischen Atombunker, verleiht Carlyle ihm trotz oder gerade wegen seiner wenig eindrucksvollen Statur eine ungeheure Leinwandpräsenz. Erstaunlich ist auch, dass Carlyle gelingt, was mit Donald Pleasance viele Jahre zuvor überhaupt nicht geklappt hat: Seine fast kahl geschlagene Frisur und die narbigen Kratzer unterstützen das manische, eindringliche Mienenspiel und geben ihm den letzten Schliff.
Denise Richards‘ Auftritt als Dr. Christmas Jones wird natürlich gerne belächelt, und tatsächlich hätte man nur wenige Darstellerinnen finden können, die als neunmalkluge Atomphysikerin weniger glaubhaft wäre als die stupsnasige Richards im Lara-Croft-Outfit. Wen man TWINE aber nicht bierernster nimmt als einem Bondfilm guttut erfüllt Richards voll und ganz ihren Zweck. Sie sieht gut aus und bildet einen charmanten, einigermassen schlagkräftigen Sidekick für Bond und ist halt ein Bondgirl – get over it. Robbie Coltranes neuerlicher Auftritt als schmierig-charmanter Russengangster Zukowsky ist eine Bereicherung, hat sich die Rolle doch schon in GE für weitere Filme geradezu angeboten. Coltranes Charisma ist so einvernehmend, dass einige der "Gemeinheiten" des misstrauischen Bond fast empörend wirken. Umso schöner ist es, wenn Bond und Zukovsky am Ende voll und ganz aufeinander zählen können, was im von Elektra missverstandenen und gehässig kommentierten letzten Schuss Valentins einen wunderbaren Abschluss findet.
Mir gefällt die Einführung von John Cleese als neuer Q, bzw. dessen temporärer Assistent R. Klar ist das Ganze ein einziger Hieb mit der Kasper-Keule, und wer Cleese und seinen Humor nicht mag wird sich gehörig daran stören, aber es ist doch auch schön, die alte Doppelnull im komödiantischen Schlagabtausch mit einem der prägnantesten und eigenwilligsten Komiker Englands beobachten zu dürfen, vor allem auch weil Cleese später auf sehr versöhnliche Art zur Schlussszene beitragen darf wenn er insgeheim die Videoüberwachung Bonds durch den MI6 abbricht. Desmond Llewelyn hat für mich in TWINE seine neben LTK besten Szenen, alleine sein Kopfschütteln über einen alarmiert durch das MI6-Gebäude stürmenden Bond in der PTS ist Gold wert und könnte nach fast vierzig Jahren gemeinsamer Historie vielsagender nicht sein. Ein letztes Mal darf Desmond im Labor seine Erfindungen vorführen und Bond einen Rat mit auf den Weg geben, bevor er für immer verschwindet, und die Szene ist so schön, dass es kaum zu glauben ist dass sie nicht als allerletzter Auftritt von Llewelyn geplant war. Es passt einfach, dass Q von Bonddarsteller zu Bonddarsteller mehr und mehr eine zänkische und trockene aber doch irgendwie anrührende Freundschaft zu dem Doppelnullagenten entwickeln durfte, nachdem das Verhältnis anfangs bei Connery noch sehr distanziert war.
Ein paar Worte zur Musik: Der Titelsong von Garbage ist entgegen dem Bandnamen kein Müll sondern durchaus wuchtig und dramatisch geraten. Auch der Liedtext ist gelungen, obwohl in seinem Bezug auf die Filmhandlung nicht ganz klar wird ob er aus der Perspektive von Bond oder Elektra erzählt wird, was aber ein unbedeutendes Detail ist. David Arnolds Score ist okay und erfüllt seinen Sinn und Zweck, bleibt aber über das Filmende hinaus kaum nennenswert im Gedächtnis, ausser wenn er entweder das Bond-Theme oder den eigenen Titelsong zitiert.
TWINE ist ein ordentlicher Bondfilm und es hat der Serie zu diesem Zeitpunkt wirklich gutgetan, der knalligen und actionreichen Brosnan-Ära der 1990er etwas mehr Handlungs- und Figurentiefe zu verleihen, was schauspielerisch und dramaturgisch vor allem im Dreieck Bond-Elektra-Renard bzw. Brosnan-Marceau-Carlyle schön umgesetzt wurde. An die besten Bondfilme will TWINE zwar nicht wirklich heranreichen, aber das geht auch in Ordnung. Denn wie man den Songtext interpretieren kann: TWINE ist nicht ganz genug, aber es ist ein schöner, vielleicht sogar perfekter Ort, meine Lieben. Nicht jeder Bondfilm muss gleich der Beste sein, weder 1999 noch 2019. Das neue Jahrzehnt kann beginnen, damals wie heute. Frohes neues Jahr!
Wertung: 8 / 10
We'll always have Marburg
Let the sheep out, kid.