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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Auf der Flucht
Wie gelingt es Geschichtenerzählern, einen fiktiven Charakter in Windeseile liebenswert zu konstruieren? Mit dieser Frage hat sich der Dramaturg Blake Snyder beschäftigt und 2015 ein Sachbuch darübergeschrieben. Seine Antwort steht im Titel: „Rette die Katze! Das ultimative Buch übers Drehbuchschreiben“. Aber was bedeutet es, die Katze zu retten? Snyder erklärt, der einfachste Weg, die Zuneigung des Publikums für eine Hauptfigur zu gewinnen, sähe wie folgt aus: Gleich beim ersten Auftritt müsse die Figur sich selbstlos verhalten und so einen besonders guten Eindruck erwecken – zum Beispiel durch die Rettung eines Kätzchens von einem Baum. Schon sei dem Protagonisten die Sympathie der Zuschauer gewiss. Ein besonders effektiver Einsatz eines „Rette die Katze!“-Szenarios eröffnet den Actionfilm „Auf der Flucht“. Nur ist „die Katze“ ein verletzter Gefängniswärter und „der Baum“ ein verunglückter Bus, der auf Zugschienen liegengeblieben ist.
Denn obwohl dieser Bus den zum Tode verurteilten Chirurgen Dr. Richard Kimble zu seinem Termin mit der Giftspritze bringen sollte, hat er Mitgefühl, als er sich in dem überschlagenen Fahrzeug wiederfindet und ein Zug auf das Bus-Wrack zusteuert. Er stemmt den Wärter über seine Schulter, wirft ihn in Sicherheit und kann in letzter Sekunde selbst dem drohenden Unfalltod entrinnen. Von hier an kann das Publikum gar nicht anders, als für ihn Respekt zu empfinden. Ein kurzer Prolog hatte bereits die missliche Lage von Kimble vorgestellt. Eines Abends fand er in seinem Haus seine Frau ermordet vor und wurde daraufhin von einem einarmigen Mann attackiert. Die Polizei glaubte ihm die Geschichte jedoch nicht, war sicher: Er ist auf die Lebensversicherung seiner noch vermögenderen Gattin aus. Die Todesstrafe war schneller gesprochen, als Kimble die Situation verstehen konnte. Doch obwohl ihm die Justiz so übel mitgespielt hatte, findet er, als es um Sekunden geht und ein dampfender Zug ihn auszulöschen gedenkt, in diesem Moment die Kraft, einen Mann zu schützen, der alles repräsentiert, was Kimbles Leben zerstört hat. Die Katze ist gerettet – und ein Held geboren.
Dieser Held stammt eigentlich aus dem TV-Bildschirm: In 120 Folgen war „Dr. Kimble auf der Flucht“. Zwischen 1963 und 1967 etablierte sich die Geschichte um den zu Unrecht des Mordes an seiner Frau verurteilten Arzt zu einem Straßenfeger. Jede Episode zeigte Kimble mit neu angenommener Identität, wie er vor dem Gesetz floh und den Einarmigen suchte, der ihn entlasten könnte. Die letzte Folge, in der Kimble schließlich seine Freiheit zurückerlangte, hatte am 29. August 1967 in den USA Einschaltquoten von 71 Prozent. Dreißig Jahre nach Beginn der Serie sollte die Flucht erneut beginnen – dieses Mal auf der großen Leinwand. Serienvorkenntnisse brauchte das Publikum für „Auf der Flucht“ allerdings nicht. Sogar Publikumsmagnet Harrison Ford, der für die Filmversion den Kimble mimte, hatte vor Drehbeginn nie eine Folge der Serie gesehen.
Fords Charme lag stets in seinem unerschöpflichen Charisma und seiner Person selbst, vereinte er doch den Glamour eines Hollywood-Stars mit der Bodenständigkeit des US-amerikanischen Jedermanns. Damit war er perfekt für Kimble: Durch ihn wird der Arzt zum Überlebenskämpfer, der dennoch glaubhaft in der Realität verankert bleibt und nie zum plumpen Actionhelden verkommt. Er kann sich nicht durch sein Geschick mit Schusswaffen oder seine übermenschliche Physis behaupten, sondern muss einzig auf seine Intelligenz und eine Portion Glück vertrauen. Seine Verwundbarkeit erzeugt seine Fallhöhe – und Kimble fällt tatsächlich, sogar aus beträchtlicher Höhe, als ihn seine Flucht auf einen Staudamm führt. Dort in die Enge getrieben, weiß der verzweifelte Mann keinen anderen Ausweg, als sich in die Tiefe zu stürzen. Hier flieht kein Alphamännchen, sondern ein gepeinigtes Individuum, das nichts anders will als Gerechtigkeit für sich und seine ermordete Frau. Sein charakteristisches Humpeln ist übrigens kein Regieeinfall: Ford verletzte sich zu Beginn der Dreharbeiten bei Aufnahmen im Wald, verzichtete aber auf eine Operation, um im restlichen Film glaubwürdig zu hinken.
Ein so einvernehmender Held braucht einen mindestens ebenso großen Widersacher – und hier trumpft „Auf der Flucht“ mit dem grandiosen Tommy Lee Jones auf. Er spielt den Chief Deputy Marshal Samuel Gerard als zielstrebigen, fast schon sturköpfigen Kapitän Ahab, der nicht ruhen kann und will, ehe er sein Ziel erjagt hat. Viele grandiose kleine Momente schreiben ihm die Autoren Jeb Stuart und David Twohy, die aus ihm eine der vielschichtigsten Figuren ihrer Art macht. Brillant eine Szene, in der er einen seiner Deputys vor einem bewaffneten Mann rettet, in dem er diesen einfach aus der Deckung heraus erschießt – ohne dabei richtig zu zielen. Als sein Partner sagt: „Du hättest mich treffen können. Du hättest verhandeln sollen“, meint Gerard nur: „Ich verhandele nie mit Kriminellen.“ Gänsehaut generiert die erste Begegnung zwischen ihm und Kimble: Der Marshal verliert seine Waffe, Kimble hebt sie auf, richtet sie auf seinen Verfolger. Er brüllt: „Ich habe meine Frau nicht umgebracht.“ Gerard antwortet: „Das ist mir scheißegal.“
„Auf der Flucht“ ist ein fantastischer Actionfilm, weil er in erster Linie als psychologisches Katz-und-Mausspiel funktioniert. Kimble muss achtsam vorgehen, will er unentdeckt von der Polizei genug Informationen sammeln, um den Mörder seiner Frau aufzuspüren. Gerard wiederrum durchforstet Kimbles Vergangenheit, um dessen Psyche zu verstehen – und obwohl er langsam Zweifel an Kimbles Schuld entwickelt, kann er nicht anders, als diesen Mann aus purem Pflichtgefühl weiter zu jagen. Beide sind getriebene Männer, die mehr verbindet als sie ahnen. Der Kriminalplot um den Mord an Kimbles Frau ist dabei kompetent konstruiert und hält sich seine besten Wendungen vorbildlich für den Schluss auf. Die Nebenfiguren sind mit Joe Pantoliano als schlagfertigen Deputy, Julianne Moore als misstrauische Ärztin und Jeroen Krabbé als Kimbles Freund und Kollege exzellent besetzt, doch es sind die Schultern von Harrison Ford und Tommy Lee Jones, die diesen 130-minütigen, meisterhaften Exkurs in Spannungsaufbau zur Gänze tragen.
Regisseur Andrew Davis hatte ein Jahr zuvor mit dem „Stirb langsam“-Duplikat „Alarmstufe: Rot“ einen Publikumshit gelandet, schon darin überzeugte Tommy Lee Jones als Widersacher. Der Film gefiel Harrison Ford so gut, dass er Davis für „Auf der Flucht“ dabeihaben wollte, nachdem der ursprünglich angedachte Walter Hill lieber den Western „Geronimo“ drehte. Davis inszeniert „Auf der Flucht“ bedacht, findet die richtige Tonalität zwischen intelligentem Thriller und emotionalem Drama. Für die großen Kino-Momente scheute er vor riskanten Improvisationen nicht zurück: Eine Verfolgungsjagd durch die Häuserschluchten von Chicago führt Kimble und Gerard auf eine Parade am Saint Patricks Day. Um die echten Feierlichkeiten zu nutzen, ließ Davis seine Stars einfach durch die Menschenmengen laufen, filmte sie mit versteckten Handkameras.
Trotz der unbestreitbaren Qualität dieses modernen Klassikers war es eine Überraschung, als „Auf der Flucht“ schließlich für sechs Oscars nominiert wurde – darunter sogar als ‚Bester Film‘. Erklären lässt sich dies u. a. über die sozialkritischen Töne, die der Film anschlägt: Die Kritik an der Todesstrafe ist überdeutlich, auch wird die gefährliche Schwarm-Mentalität der Polizei vorgeführt, als im letzten Drittel bei Kimbles erneutem Kampf mit dem Einarmigen ein Polizist den Tod findet und Kimble fürchten muss, nun als „Polizistenmörder“ von jedem beliebigen Ordnungshüter über den Haufen geschossen zu werden. Die fesselnden Kameraaufnahmen von Michael Chapman sowie die mysteriöse Filmmusik von James Newton Howard, die klassisches Orchester mit atmosphärisch-leidenden Synthesizer-Klängen mixt (ohne Zweifel eine der besten Arbeiten seiner beeindruckenden Karriere!), gingen bei den Oscars leider leer aus. Immerhin durfte sich Tommy Lee Jones als ‚Bester Nebendarsteller‘ verdient den Goldjungen abholen. Seine Leistung war so herausragend, dass er fünf Jahre später für die Fortsetzung „Auf der Jagd“ zurückgeholt und sein Gerard darin zur Hauptfigur befördert wurde.
Das Beste, was sich über „Auf der Flucht“ formulieren lässt, ist, dass es sich um einen der wenigen Actionfilme seiner Art handelt, bei denen das mitreißende Finale im und auf dem Dach des Chicago Hilton Hotels einen bis an den Rand des Sitzes treibt, vor Anspannung gar elektrisiert, es aber die ruhigen, menschlichen Momente sind, die über das Filmende hinaus nachwirken. Etwa eine Szene, in der Kimble sich als Reinigungskraft in einem Krankenhaus tarnt und einen kleinen, schwerkranken Jungen beobachtet, dessen Arzt nur oberflächlich seine Symptome begutachtet und eine Fehldiagnose stellt. Kurzerhand bringt Kimble den Jungen eigenhändig in den OP und rettet ihm so das Leben. Seine Tarnung fliegt dadurch auf, er muss erneut seine Identität wechseln und um sein Leben fürchten. Trotzdem weiß das Publikum: Er würde es immer wieder so machen. Weil er als Held nun einmal „die Katze retten“ muss.
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Let the sheep out, kid.