Bourne to be Wild: Wer bin ich, und wenn ja, seit wann?

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Die Bourne Identität

Werden Menschen als gut oder böse geboren oder kommt jedes Lebewesen unschuldig zur Welt? Die Philosophie diskutiert diesen Umstand seit jeher. Platon ließ in seinem Dialog „Symposion“ noch Sokrates sagen: „Ein Mensch gilt von Kindesbeinen an bis in sein Alter als der gleiche. Aber obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich.“ Tatsächlich stammt der Begriff Identität aus der lateinischen Sprache, kommt vom Wort īdem – was übersetzt „der- oder dasselbe“ bedeutet. Die Psychologie ist sich sicher: Die Identität, der Kern unseres Wesens, ist ein soziales Konstrukt. Wer man selbst ist, darüber entscheidet die Eigen- und Fremdwahrnehmung. Jeder Charakter ist ein Konglomerat seiner lebensgeschichtlichen Vergangenheit – und damit stets im Wandel. Was aber, wenn die eigene Vergangenheit vollkommen ausgelöscht, jede Erinnerung einem genommen wird?

So ergeht es einem der bekanntesten Protagonisten der jüngeren US-Filmgeschichte. 2002 wurde er in seinem ersten Film von Fischern aus dem Wasser gezogen, mit mehreren Einschusslöchern im Rücken, und obwohl er noch einige Sprachen beherrscht, erinnert er sich nicht an sein früheres Leben, nicht an seine Vergangenheit, nicht einmal an seinen Namen. Symbolträchtig wie die gleichnamige Romanvorlage aus dem Jahr 1980 von Robert Ludlum eröffnet „Die Bourne Identität“ mit dem Protagonisten, leblos im Wasser treibend. Wie aus dem Fruchtwasser heraus genommen wird er an Bord des Fischerbootes gebracht, dort neugeboren. Passend dazu auch sein Name, den er kurz darauf erfährt: Jason Bourne, ausgesprochen „born“, das englische Wort für „geboren“.

Natürlich wurde der Name nicht nur in dieser Hinsicht von Ludlum kaum zufällig gewählt: Jason Bourne teilt sich seine Initialen mit einem der berühmtesten Helden der Literatur- und der Filmgeschichte: James Bond. Und Bourne findet schnell heraus, dass er mit dem britischen Spion noch mehr gemeinsam hat: Als ihn plötzlich Killer verfolgen und er bei sich selbst reflexartige Martial-Arts-Kenntnisse entdeckt, findet er nach und nach die Wahrheit über sein früheres Leben heraus. Auch er war ein Geheimagent, eine staatlich ausgebildete und perfektionierte Mordwaffe auf zwei Beinen. Doch ist das wirklich alles, was ihn ausmacht? Hat er durch seine Amnesie die Chance auf ein neues Leben? Oder kann ein Berufsmörder nicht aus seiner Haut? Ludlum legte seinen Bourne als Gegenentwurf zu dem James Bond an, der in den 1950ern in den Büchern von Ian Fleming erfunden wurde. War Bond eine überlebensgroße Figur, in die Fleming und später die Zuschauer der Verfilmungen ihre Kalter-Kriegs-Fantasien projizierten, sind die Bourne-Romane realistisch gehalten, erinnern eher an die nüchterne Spannung eines John le Carré.

So verwundert es dann auch nicht, dass „Die Bourne Identität“ ein äußerst ungewöhnlicher Agententhriller geworden ist, der sich gewaltig vom US-Blockbusterkino abhebt. Schon die Wahl des Regisseurs überrascht. Mit Doug Liman wählten die Produzenten einen Künstler, der seine Wurzeln im Independent-Film hat – und er bringt genau die feinsinnige Arthouse-Sensibilität in sein Hollywood-Debüt mit. Seinen Helden besetzt er nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit Actionstars wie Brad Pitt oder Sylvester Stallone. Er wählt den physisch eher unscheinbaren Matt Damon. Als Partnerin für Bourne verzichtet er auf eine US-Diva mit Glamourfaktor, sondern wählt die deutsche Franka Potente als Roma-Studentin. Bei der Schauplatz-Wahl entschied man sich gegen luxuriöse Locations rund um den Globus. Stattdessen spielt der Plot größtenteils in Paris und Zürich, letzterer Ort wurde dabei von Prag gedoubelt.

Liman selbst ist die Aussage entnommen, er wollte einen Kunstfilm drehen, den er mit gerade so vielen Szenen für die Trailer füllen konnte, um ein Mainstream-Publikum anzulocken. Besonders dieser konsequent durchexerzierte Mix ist es, der aus „Die Bourne Identität“ einen der wegweisenden Genrefilme der 2000er machen sollte. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jason Bourne und seinen korrupten Ex-Auftraggebern vom amerikanischen Geheimdienst ist kein Actionfeuerwerk, sondern ein ruhiges und emotional feinsinniges Drama. Mit der Handkameraführung von Oliver Wood bleibt die Inszenierung stets dicht bei den Akteuren, zeichnet Bourne trotz seiner überwältigenden Fähigkeiten im Nahkampf als verängstigtes Individuum. Durch seinen Gedächtnisverlust hat er nicht nur vergessen, wer er einmal war, sondern weiß auch nicht, wer er gerade ist. Das Drehbuch der Autoren Tony Gilroy und William Blake Herron übernimmt aus dem Roman nur die Prämisse, nutzt diese aber für komplizierte Fragestellungen: Was zeichnet einen Menschen wirklich aus? Können wir uns ändern? Schlagen zwei Seelen in einer jeden Brust?

Einfache Antworten darf man von Liman nicht erwarten. Sein Film ist komplexer als andere Agenten-Geschichten. Bewusst und im Geiste Robert Ludlum nachempfunden, konzipiert er „Die Bourne Identität“ als Anti-Bond. Coole Sprüche klopft Jason nicht – die hat er genauso vergessen wie auch alles andere. Aufwendige Schusswechsel gibt es keine, fast alle Actionszenen beschränken sich auf harte und brutale Nahkampfszenen, die vom israelischen Filmeditor Saar Klein phänomenal rasant und dynamisch getaktet werden. Eine obligatorische Autoverfolgungsjagd durch die Straßen von Paris gibt es zwar, doch statt im mit allerlei Spezialeffekten vollgepackten Aston Martin rast Matt Damon in einem Mini der französischen Polizei davon, in einer Szene, die inszenatorisch ihrem großen Vorbild aus „Bullitt“ alle Ehre macht.

Getragen wird das hervorragende Script von Matt Damon, dessen kleinbürgerliches Charisma ideal für den „Agent ohne Namen“ ist, wie eine 80er Jahre TV-Verfilmung des Ludlum-Romans heißt. Damals verkörperte noch Richard Chamberlain den Bourne. Sensationell ist aber vor allem Franka Potente, die von der anfänglichen Jungfrau in Nöten zur einzigen Bezugsperson im Leben von Jason Bourne wird. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden wird großartig entwickelt: So wie Bourne sich selbst kennenlernen muss, ist Maria, die Rolle der Potente, gezwungen, sich schnell den gefährlichen Verhältnissen der geheimeinsamen Odyssee anzupassen – in einer der metaphorischsten Szenen muss sie ihr wildes, buntes Haar in konventionelles Schwarz färben, wählt selbstbestimmt die optische Domestizierung. Die Beziehung der zwei Akteure lässt sich als spätpubertierende Liebe interpretieren. Progressiv zeigt Liman die erste körperliche Annäherung: Nach einem kurzen Moment des Begehrens ist es Maria, die Bourne mit einem Kuss überfällt, ihn verführt. Ein Bruch mit Männlichkeitsbildern, mit dem Typus des unwiderstehlichen Gentleman-Agenten.

Visionär auch die Darstellung der Gegenseite: Die CIA-Offiziere rund um Charakterdarsteller wie Chris Cooper und Brian Cox sind biedere Bürohengste, die über Menschenleben und Kollateralschäden wie über einen Buchungsfehler beraten. Bourne, einen ihrer eigenen Leute, wollen sie über die Klinge springen lassen, weil er einen Auftrag vermasselt und zu viel wisse. Von der tragischen Realität, dass er in Wahrheit gar nichts mehr weiß, erfahren sie nie. Ursprünglich sollte „Die Bourne Identität“ im September 2001 starten. Die Anschläge auf u.a. das World Trade Center vom 11. September kamen dazwischen. Später wirkte der Film bei der Veröffentlichung im Juni 2002 ungewollt äußerst gewagt. In einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten zum Zusammenhalt der Bevölkerung gegen das terroristische Böse aus dem Nahen Osten aufrief, zeigte Liman einen amerikanischen Agenten, der seine Pflicht für das Vaterland vergessen hat und von seinen eigenen Landsleuten gejagt wird. Eine bittere Abrechnung mit der Paranoia und dem Patriotismus der als Weltpolizei agierenden USA, die weniger als ein Jahr nach den Anschlägen umso signifikanter erschien.

Eine Gänsehaut-Szene genügt, um herauszustellen, warum „Die Bourne Identität“ zurecht als Meisterwerk des Actionkinos gilt. In dieser wird Bourne in seinem Versteck auf einer Farm mit einem Killer der CIA konfrontiert, gespielt vom damals kaum bekannten Clive Owen. Gleich zum Szenenbeginn ereignet sich die einzige Explosion des Films: Bourne jagt einen Tank in die Luft, um Owens Scharfschützenfigur abzulenken und sich an ihn heranzuschleichen. In einem Kornfeld kommt es zum Showdown, in dem Bourne durch eine List seinen Gegenspieler tödlich mit dem Gewehr trifft. Er sieht ihm beim Sterben zu. Der Attentäter zeigt auf seine fatalen Wunden, sagt über seine Auftraggeber vom Geheimdienst: „Sehen Sie sich an, was sie von einem verlangen.“ Dann haucht er sein Leben aus. Der ansonsten treibende Synthesizer-Soundtrack von John Powell schweigt an dieser Stelle.

Es sind existenzielle, trostlose Momente wie dieser, die aus „Die Bourne Identität“ ein nachdenkliches, sogar poetisches Filmerlebnis machen. Liman formulierte eine neue Stimme im Action-Sektor. Und so wie einst Jason Bourne in der Literatur eine Reaktion auf James Bond war, reagierte 007 auf Bourne. Vier Jahre später verlangte das repetitive Muster des Kult-Franchise nach einem radikalen Neustart, wählte dafür Daniel Craig in der Hauptrolle. Die Zutaten hinter seinem Bond-Einstieg in „Casino Royale“: Eine moderne, bodenständige, realistische Adaption der Geheimdienstwelt nach 9/11. Die Bond-Reihe wurde neugeboren, fand eine neue Identität. Eine Bourne Identität.
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