Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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"Richard Jewell" ist gut, dem sehr ähnlichen "Sully" tendenziell leicht unterlegen. Auch weil die Geschichte um "Richard Jewell" größer ist und mehr Tragweite hat, und der ganze Film dadurch nicht diese wunderbar einfach gehaltene menschliche Stringenz von "Sully" aufweisen kann. Wenn man so will, ist "Richard Jewell" das größere Rad, an dem Eastwood hier dreht und der Film weist dadurch ein paar Längen auf, ist durchgängig größer als sein Protagonist.
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Für eine Handvoll Gnade

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Erbarmungslos

Manchmal ist der Originaltitel eines Films zutreffender als sein deutsches Pendant. „Erbarmungslos“, so heißt der Western, mit dem Clint Eastwood sich 1992 vom Genre verabschiedete, durch welches er zur Ikone wurde. „Erbarmungslos“, das ist ein Charakterzug, der auf viele Charaktere von Clint Eastwood zutrifft, auf seinen Poncho-tragenden Italowestern-Helden aus der „Dollar-Trilogie“ von Sergio Leone oder auf „Dirty Harry“, den abgebrühten Cop aus San Francisco, den er 1971 erstmals unter der Regie von Don Siegel verkörpert. Am Schluss von „Erbarmungslos“ ist ein Grabstein zu sehen, darunter wird eine Widmung eingeblendet: „Für Sergio und Don.“ In Ehren an seine Lehrmeister endet Eastwood, sein Film steht aber als Beweis dafür, was ihn als Filmemacher von seinen Vorbildern unterscheidet. „Erbarmungslos“ waren die Eastwood-Helden von Leone und Siegel, seinen eigenen Protagonisten umschreibt der englische Originaltitel besser: „Unforgiven“, also „Unverziehen“.

William Munny ist der Charakter, den Clint Eastwood für seinen letzten Western-Auftritt wählt. Er ist ein Pistolero vergangener Tage. Einst ein Postkutschendieb und Mörder haben ihn die Liebe weich und die Zeit alt werden lassen. Verwitwet lebt er als Schweinefarmer mit seinen Kindern in einer Zeit, als der Westen langsam die Gestalt einer Zivilisation annahm. Ein junger Reiter klopft an seine Tür, er kennt Munny nur aus Legenden. Er will sich einen Namen machen, und hat ihn bereits eigenmächtig ausgesucht: Scofield Kid. Munny soll ihn in die Kleinstadt Big Whiskey begleiten, um dort 1000 Dollar zu verdienen. Prostituierte haben ein Kopfgeld auf zwei Cowboys ausgesetzt, die einer von ihnen das Gesicht zerschnitten haben. Da seine Schweinezucht finanziell vor dem Ende steht, willigt Munny ein.

Doch Munny trifft bei Schießübungen selbst einfachste Ziele nicht. Auf sein Pferd kann der armselige, greise Mann nur mit viel Mühe steigen. Einen ehemaligen Partner, Ned Logan, bittet er darum, hin und wieder nach seinen Kindern zu sehen. Der hat so viel Mitleid mit ihm, dass er sich dem Recken anschließt. Gemeinsam reiten sie, Clint Eastwood und Morgan Freeman, der den Ned Logan spielt, Seite an Seite im Licht des Sonnenuntergangs, übernachten am Lagerfeuer, erschließen in fantastischen Landschaftsaufnahmen das unbefleckte Amerika. Doch die Westernklischees haben ihren Glanz verloren: Über das Töten spricht Ned wie ein traumatisierter Heimkehrer aus einem bitteren Krieg, Munny kann sich an seine Ruhmestage kaum erinnern. Er war die meiste Zeit betrunken, in seinen Träumen verfolgen ihn seine vielen sinnlosen Opfer. Als Mann ist er nicht länger aktiv, aus Treue zu seiner verstorbenen Frau masturbiert er nicht einmal mehr.

Schnell wird klar, was Munny sich wirklich von seinem Trip erhofft: Vergebung, Absolution von seinen Gräueltaten. Seine Frau liebte ihn, obwohl er ein kaltherziger, ruchloser Mörder gewesen ist. Sie sah etwas in ihm, dass sie lieben konnte. Munny versucht, diesen Mann zu finden, der er in den Augen seiner Frau war. Er hat sich, um mit dem Begriff des Originaltitels zu sprechen, seine Historie des Tötens nie verziehen. Das Töten, bzw. die Nachwehen des Tötens stehen im Zentrum dieses brillanten Films, der zum allerbesten gehört, was in den 1990ern in den Lichtspielhäusern zu sehen war. Eastwood gelingt in „Erbarmungslos“ die vollständige Dekonstruktion seines Leinwandimages als cooler Held mit dem lockeren Colt, aber ihm gelingt auch die Demontage eines Genres. Das Drehbuch des „Blade Runner“-Autoren David Webb Peoples ist eine in ihrer Essenz zutiefst verstörende Tragödie: Es ist die Geschichte eines Mörders, der seinem Wesen entkommen will, aber sich damit nur selbst verleugnet. Er ist dazu verdammt, ein Mörder zu sein, verdient es vielleicht nicht besser.

„Erbarmungslos“ ist einer der finstersten Filme, die das Westerngenre hervorgebracht hat. Kameramann Jack N. Green taucht nahezu alle Bilder fast vollständig in Schwarz, die Musik von Lennie Niehaus erklingt nur in wenigen Szenen. Ein einziges Mal gibt es etwas Licht, wird es kurz humorvoll. Da sitzt ein Brite, formidabel gespielt von Richard Harris, in einem Zug, nebst seinem Biographen, und fabuliert über die Vorzüge der Monarchie. Vor einem König habe man zu viel Ehrfurcht, um ihn zu töten. Einen Präsidenten lässt es sich hingegen leicht ermorden. Der Gentleman ist English Bob, ein Held des Wilden Westens, der selbst am Kopfgeld der Huren interessiert ist. Sein Biograph schreibt über dessen Abenteuer Pulp-Literatur, zum Beispiel über English Bobs Aufeinandertreffen mit Two Gun Corcoran, den er im Duell erlegte. Wie der Autor später erfährt, ist das jedoch alles gelogen: Bob war damals in Wahrheit sturzbesoffen, konnte seinen Gegner nur dank dessen Ladehemmung töten. Die Moral: Die alten Mythen des Westens sind verlogene Träume. Die Helden hat es nie gegeben.

Der Western ist der Heimatfilm der Vereinigten Staaten. Die besten Filme des Genres behandeln die amerikanische Identität, den Kampf alttestamentarischer Gebärden gegen das aufkeimende Korsett der Zivilisation und des Kapitalismus. Schonungslos zeigt dieser Spätwestern den hässlichen Kern des Frontiermythos. Verkörpert wird das im Antagonisten des Films: Little Bill, dem Sheriff von Big Whiskey. Er will verhindern, dass Kopfgeldjäger in seiner Start Jagd auf die Nutten-Schlitzer machen – und verbietet Schusswaffen in der Stadt. Nur er als Repräsentant des Gesetzes darf noch einen Revolver tragen. In diesem Plot liegt weitaus mehr verborgen als die Skepsis des bekennenden Republikaners Clint Eastwood über Waffenverbote und Gewaltmonopole. 1992 erschien „Erbarmungslos“ kurz nach dem Golfkrieg von George Bush – und das Gebaren der selbsternannten Weltpolizei USA entpuppt sich urplötzlich als Erbe des Wilden Westen.

Little Bill ist eine der faszinierendsten Figuren, die das postmoderne Kino hervorgebracht hat. Auch er ist ein ehemaliger Kopfgeldjäger wie William Munny, doch auf der Seite des Gesetzes kann er durch Gesetze geschützt weitermorden. Zwei Männer prügelt er fast tot, um den Frieden der Stadt zu wahren. Wie Munny träumt er von einem Leben ohne Gewalt: In der Natur zimmert er sich eine erbärmliche, schief geratene Hütte, über die ganz Big Whiskey lacht. Gene Hackman gewann für seine Darstellung von Little Bill den Oscar und trumpft einmalig gut auf: Fast eingeschnappt wirkt er, als jemand seine Fähigkeiten als Tischler kritisiert, überzeugt gibt er den „Herrscher“ über die Stadt. In einer erschütternden Szene wird er gar zur dämonischen Verkörperung des korrumpierten Rechts: Mit einer Peitsche misshandelt er den Charakter von Morgan Freeman, und wie diese unerträgliche Szene durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle gefilmt wird, weckt Assoziationen an die Ära des Ku-Klux-Klans. Vor dem Hintergrund der Unruhen in Los Angeles 1992, als weiße Polizisten mit der Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King ungeschoren davonkamen, gelingt Eastwood ein unter die Haut gehendes Exempel für filmischen Revisionismus.

Sein Meisterwerk ist ein Film voll brutaler Ruhe, in der das Akt des Tötens existenziell wirkt. Als das zentrale Trio einen der zwei Cowboys tödlich verwundet, sitzen sie alle in ihrer Deckung und hören dem schreienden Opfer beim Aushauchen seines Lebens zu. Als Scofield Kid schließlich zum ersten Mal selbst tötet, wird er damit nicht fertig – und greift zum Alkohol. Big Whiskey, der Name des Kaffs, in dem ein Großteil des Plots spielt, ist nicht zufällig gewählt. In „Erbarmungslos“ trinken die Männer, um morden zu können – und trinken, um ihre Taten zu verarbeiten. Den ganzen Film über entsagt Munny dem Alkohol, doch als er Kid schließlich die Flasche ab- und einen großen Schluck nimmt, weiß der Zuschauer auch dank der perfektionierten spartanischen Mimik des ikonischen Darstellers Clint Eastwood: Der Rausch des Tötens hat wieder von ihm Besitz ergriffen. Er hat sein inneres Monster akzeptiert.

Ironischerweise hat der Ausnahme-Künstler Eastwood mit diesem entmythologisierenden Western seinen eigenen Mythos genährt: Als Schauspieler, Regisseur und Produzent schuf er ein famoses, reflektiertes und melancholisches Epos, entkam mit einem Film über Männer, die ihrer Vergangenheit nicht entkommen, seiner Vergangenheit als coolster Gunslinger des Kinos. Das obligatorische finale Duell von „Erbarmungslos“ hat nichts Erbauendes. William Munny rettet nicht bei tiefhängender Sonne die Schwachen vor den Starken, auch seine Rache für den getöteten Ned ist nur faule Ausrede: Er richtet im strömenden Regen ein Massaker an Little Bill und dessen Deputys an. Dann kehrte er ganz wie Clint Eastwood dem Western den Rücken zu, und zieht mit seinen Kindern nach San Francisco. Doch sein Film entlarvt auch diese Flucht als scheinheilig. Erst als Munny zum Schluss wieder der Massenmörder vergangener Tage geworden ist, lässt Eastwood zynisch im Hintergrund die US-Flagge wehen. Denn – so die Kernaussage seines Films – wie sehr sich die USA auch anstrengen, ihre Historie zu verdrängen, bleibt sie dennoch unverziehen, bzw.: Unforgiven.
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Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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Das ist eine famose und wunderbare Rezension zu einem ebenso famosen und wunderbaren Film, lieber Hille. Jedes einzelne deiner Worte bestätigt mir, warum dieses Meisterwerk einer meiner All-Time-Favorites ist.
Neben den von dir bereits erwähnten Hauptcharakteren des Filmes, hat bei mir auch die, von Saul Rubinek dargestellte, Figur des Beauchamp bleibenden Eindruck hinterlassen. Denn, ebenso wie die Vereinigten Staaten an Ambivalenz nichts vermissen lassen, mutiert auch Beauchamp vom unschuldigen, den "Wilden Westen" romantisierenden Großstädter und Biographen eines seiner vermeintlichen Helden, zum faszinierten Beobachter von Mord und Totschlag.
Macht er sich zunächst noch beim ersten Blick in die Mündung einer Winchester in die Hosen, kann er sich der Faszination der Gewalt und des von Munny veranstalteten Gemetzels am Ende nicht mehr entziehen. Und da schließt sich wiederum der Kreis zu seiner Heimat, denn, wie zivilisiert du auch immer sein magst, es ist alles andere als einfach, nicht dem Charme gelebter Stärke und Macht zu erliegen.
Lieber in der Kaiserin als Imperator.

Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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Mal wieder in die Nordwand gestiegen und diesmal mehr Spaß gehab, als die Erinnerung hergab:

Ostholz in der Nordwand - oder Clint gibt den James

„The Eiger Sanction“ nimmt im durchaus beeindruckenden Oeuvre Clint Eastwoods keinen sonderlich prominenten Platz ein. Das gilt nicht nur für die ohnehin lange Zeit alles andere als Eastwood-freundliche Filmkritik, sondern auch für die Fans der Leinwand- respektive Regielegende. Sogar Eastwood selbst bezeichnet seine vierte Regiearbeit als „nicht gerade den besten Film, den ich jemals gemacht habe“.

https://ssl.ofdb.de/review/3906,843830, ... es-Drachen
http://www.vodkasreviews.de

https://ssl.ofdb.de/view.php?page=poste ... Kat=Review

Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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vodkamartini hat geschrieben: 14. Februar 2021 20:43 Mal wieder in die Nordwand gestiegen und diesmal mehr Spaß gehab, als die Erinnerung hergab:
Sag ich ja. :wink: Schön, dass der noch etwas profitiert hat bei dir. Die Geschichte holpert etwas und will zu viel (ich erinnere mich an einige Subplots und Handlungsebenen, die dem Eastwood-Charakter, seiner Vergangenheit und seinen Beziehungen zu anderen Charakteren mehr Tiefe geben wollen), hat aber auch viele Stärken an Bord, darunter sicher die eindrücklichen Kletterszenen. Damals auch 7 / 10.

Wohingegen Hilles Rezension Lust auf eine Neusichtung macht, weil Unforgiven nun auch eine Weile her ist. Damals 8,5 / 10.
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Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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GoldenProjectile hat geschrieben: 15. Februar 2021 11:21 Die Geschichte holpert etwas und will zu viel (ich erinnere mich an einige Subplots und Handlungsebenen, die dem Eastwood-Charakter, seiner Vergangenheit und seinen Beziehungen zu anderen Charakteren mehr Tiefe geben wollen)
Kleine Anmerkung dazu: die deutsche Fassung wurde um ca. 8 Minuten gekürzt, nahezu ausschliesslich dialoglastige Szenen zwischen Hemlock und Jemima, in welchen die negativen Aspekte der Agentenorganisation diskutiert werden. Das ganze "Bestrafungs"-Thema (immerhin Bestandteil des Originaltitels) blieb dabei komplett auf der Strecke. Interessant ist jetzt aber, dass diese Staffungen dem Film durchaus gut getan haben wie ich finde, da er so erheblich ballastfreier ist und schneller zu seinen eigentlichen Stärken kommt. Der Film ist in der deutschen Fassung eher ein straighter Agententhriller, welcher weitgehend auf die negativen Betrachtungen des Agentengewerbes verzichtet (ganz natürlich auch nicht, dafür ist der ganze Film dann doch zu durchwoben von dem Thema). Hier kann man die Kürzungen im Einzelnen sehen:
https://www.schnittberichte.com/schnitt ... ?ID=300554
"Ihr bescheisst ja!?" - "Wir? Äh-Äh!" - "Na Na!"

Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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GoldenProjectile hat geschrieben: 15. Februar 2021 11:21 Wohingegen Hilles Rezension Lust auf eine Neusichtung macht, weil Unforgiven nun auch eine Weile her ist. Damals 8,5 / 10.
ach ja, hier habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich nichts zu Hilles toller Kritik geschrieben habe, aber ich müsste den Film auch erst mal wieder schauen, um was substanzielles beitragen zu können. Irgendwie gehörte Unforgiven auch nie zu meinen Eastwoodschen Favoriten, war schon gut, aber ziehe im Zweifel texanische Halunken mit soviel Dollar wie möglich in den Händen dann doch vor. :)
"Ihr bescheisst ja!?" - "Wir? Äh-Äh!" - "Na Na!"

Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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Ich hatte diesmal mehr Spaß wie früher, da hätte ich ihn exakt so beschrieben wie du. Die 5/10 sind jedenfalls absolut vertretbar. Vielleicht lag es am deutlich besseren Bild - die Bluray ist hier ausnahmsweise mal um Welten der DVD überlegen -, vielleicht aber auch an dem für die heutige Genrehektik geradezu angenehm gleichmäßig surrenden Tempo. Keine Frage, Schwächen gibt es genug, vor allem das nicht sonderlich ausgereifte Skript bzw. die nicht so recht auf den Punkt kommende Inszenierung (übrigens gar kein so seltenes Phänomen in Eastwood Regiearbeiten). Gerade die etwas holprige Auslegung der Bondformel ist sehr spaßig und die Kletterszenen sind schlicht grandios.

@anatol
Die besagten Kürzungen sind übrigens wieder sämtlich enthalten, im Original ohne Untertitel, was ich ehrlich gesagt sogar begrüßt habe.
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Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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AnatolGogol hat geschrieben: 15. Februar 2021 11:43
GoldenProjectile hat geschrieben: 15. Februar 2021 11:21 Wohingegen Hilles Rezension Lust auf eine Neusichtung macht, weil Unforgiven nun auch eine Weile her ist. Damals 8,5 / 10.
ach ja, hier habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich nichts zu Hilles toller Kritik geschrieben habe, aber ich müsste den Film auch erst mal wieder schauen, um was substanzielles beitragen zu können. Irgendwie gehörte Unforgiven auch nie zu meinen Eastwoodschen Favoriten, war schon gut, aber ziehe im Zweifel texanische Halunken mit soviel Dollar wie möglich in den Händen dann doch vor. :)
Gut Ding darf Weile haben, Herr General! :) "Der Texaner" möchte ich irgendwann auch erneut sehen, mich hat "Unforgiven" aber immer mehr beeindruckt, er zählt für mich zur Speerspitze des Genres – und ist vielleicht der beste Film, den Clint Eastwood inszeniert hat, obwohl es da auf dem Siegertreppchen eng wird. Das passt aber dazu, dass ich bezogen auf seine Regie-Karriere besonders Eastwoods herausragende spätere Phase schätze, die er imo mit "Unforgiven" einläutete und in der er sich als Filmemacher zu einer der außergewöhnlichsten Stimmen des US-Kinos hocharbeitete. Freilich mag diese Einschätzung aber auch dadurch etwas verfälscht sein, dass ich aus seiner Karrierestufe ab 1992 im Vergleich zum Vorwerk deutlich mehr gesehen habe.
DoppelNull hat geschrieben: 2. Februar 2021 21:55 Das ist eine famose und wunderbare Rezension zu einem ebenso famosen und wunderbaren Film, lieber Hille. Jedes einzelne deiner Worte bestätigt mir, warum dieses Meisterwerk einer meiner All-Time-Favorites ist.
Neben den von dir bereits erwähnten Hauptcharakteren des Filmes, hat bei mir auch die, von Saul Rubinek dargestellte, Figur des Beauchamp bleibenden Eindruck hinterlassen. Denn, ebenso wie die Vereinigten Staaten an Ambivalenz nichts vermissen lassen, mutiert auch Beauchamp vom unschuldigen, den "Wilden Westen" romantisierenden Großstädter und Biographen eines seiner vermeintlichen Helden, zum faszinierten Beobachter von Mord und Totschlag.
Erst einmal danke ich für das Lob und gebe gleich eines zurück: Deine Analyse der Beauchamp-Figur ist sehr schlüssig und eine hübsche weitere Ebene der komplexen Geschichte, die man sogar noch vertiefen kann: Als Biograph ist Beauchamp nichts anderes als ein John Ford, ein Mann, der Geschichten über eine Epoche und über eine Kultur erzählt, der er nie ganz angehörte. Sein Blickwinkel, der wie du schreibst wandelbar ist, bestimmt die Sichtweise weiterer Menschen auf den "Wilden Westen". Er schafft die falschen Vorstellungen, er subjektiviert sie – und schafft dabei selbst die Szenen, über die er schreibt. Am Ende des Films gibt es eine grandiose kurze Szene, in der Munny den Saloon verlässt und zwei Männer im Dunkeln mit einem Gewehr auf ihn zielen. Obwohl sie freies Schussfeld haben, trauen sie sich nicht, den Abzug zu drücken. Es wirkt, als würden sie glauben, sie könnten Munny ohnehin nicht töten oder verwunden – oder er würde stattdessen sie hinrichten. Natürlich ist das Humbug. Munny nimmt nicht einmal Notiz von ihnen. Er ist kein "Lucky Luke", aber seine Umwelt nimmt ihn als solchen wahr. Und das liegt an Männern wie Beauchamp. Im gewissen Sinne ist das der ganze Film "Unforgiven" in einer Szene: Ein Blick hinter die Vorstellungen, die das Western-Genre geschafft hat, und eine Offenlegung des hässlichen Kerns dahinter.
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Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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Aber all diese Dinge sind im Western schon des öfteren behandelt worden.
Wie ja überhaupt Unforgiven eigentlich ein Film ist der wenig Neues bietet, der eigentlich 20 Jahre zu spät kam. Denn diese Art von Western, und es ist ja ein sehr typischer Spätwestern, war in den 60ern und 70ern schon fast zu Tode gefilmt worden, jedenfalls hatte das Publikum diese Art von Film irgendwann über, aber immerhin kommerziell funktionierte das hier noch einmal.

Der zweifelhafte Chronist, der selber dem Mythos verfällt, gab es schon in Arthur Penns The Left Handed Gun (1958) und die meisten Themen von Unforgiven stammen direkt aus Peckinpahs Ride the High Country (1961) und seinen vielen Nachfolgern. Nur das Ende gibt der altbekannten Geschichte noch mal einen interessanten neuen Dreh.

Es ist ein schöner Film, mit einem einmal mehr großartigen Gene Hackman, aber er ist für mich trotzdem kein Meisterwerk des Genres. 8/10

Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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Maibaum hat geschrieben: 16. Februar 2021 17:22 Aber all diese Dinge sind im Western schon des öfteren behandelt worden.
Das hat ja keiner angezweifelt. Für mich ist nicht die Frage entscheidend, wer zuerst da war, sondern in welcher Qualität es gemacht wird. Dafür ist auch völlig unerheblich, wann der Film erschienen ist. Wenn heute ein Spätwestern wie aus den 70ern produziert wird, aber dabei intelligent und umwerfend gestaltet ist, dann begrüße ich das. Deine Anmerkungen finde ich dennoch durchaus richtig und interessant, nur ist das meines Erachtens nicht sonderlich erheblich für eine Diskussion über "Unforgiven". Es sei denn man ginge davon aus, das Genre wäre 1992 deutlich weiter gewesen und Eastwoods Film habe sich wie von gestern angefühlt. Was aber 20 oder 30 Jahre später auch wieder total anders wirken kann.

Jedenfalls sehe ich ich "Unforgiven" als einen der Top-Filme seines Genres und auch als einen der besten Spätwestern, und das ziemlich problemlos - was nicht bedeutet, dass er frei von Einflüssen ist. Deine beiden Beispiele kenne ich, aber gerade "The Left Handed Gun" ist für mich dann auch ein etwas anderes Kaliber, ein Prä-Spätwestern sozusagen.
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Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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Ich denke schon, daß ähnlich wie bei Der mit dem Wolf tanzt, und das war auch von Seiten der Kritik so, viele so taten als hätten beide Filme etwas Neues ins früher schlichte Genre gebracht.

Aber natürlich ist die Qualität nicht davon abhängig, ob ein Film etwas Neues macht oder Altbekanntes variiert. Und Eastwoods Film wirkte damals auch nicht altmodisch.

Re: Die Filme von und mit Clint Eastwood

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Maibaum hat geschrieben: 16. Februar 2021 22:22 Ich denke schon, daß ähnlich wie bei Der mit dem Wolf tanzt, und das war auch von Seiten der Kritik so, viele so taten als hätten beide Filme etwas Neues ins früher schlichte Genre gebracht.
Das ist natürlich ärgerlich, weil es die Kritik sicherlich besser wissen sollten – aber da lesen sich immer wieder ärgerliche Sachen. Erst jetzt wurde in einer Rezension zum Western "News of the World" bei Netflix von Paul Greengrass so getan, als sei die Darstellung der Sioux-Indianer (die nur als mystische Gestalten in kurzen Momenten auftreten) etwas Besonderes in dem Genre, welches vorher ausschließlich aus indianerfeindlichen Filmen bestanden hätte. Da weiß man direkt, der Autor argumentiert nur aus seiner Vorstellung für das Genre heraus, hat aber kaum tatsächliche Seherfahrungen.

Jedenfalls denke ich (wie auch weiter oben ausgeführt), dass "Unforgiven" gerade im Jahr 1992 auch gewissermaßen einen Nerv traf und sich gut ins US-Zeitgeschehen einfügen konnte. Die größere Geschichte im Film ist dann sicher recht universell, und hätte problemlos auch 20 Jahre früher oder 20 Jahre später im Kino so stattfinden können. Letztendlich gibt es ja auch kaum etwas, was vorher nicht schon in irgendeiner Form da gewesen ist. Es ist die Art und Weise, wie Eastwood all das in diesem Western zusammenführt, die für mich daraus ein Meisterwerk und Genre-Highlight machen.
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