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von ollistone
Agent
Close (Belgien, 2022)
Spätestens seit der Oscar-Nominierung als bester nicht-englischsprachiger Film dürfte das belgische Jugenddrama „Close“ die gebotene Aufmerksamkeit erhalten haben. Die beiden 13-Jährigen Remi und Leo sind unzertrennliche Freunde, verbringen die Ferien miteinander, übernachten mal beim einen, mal beim anderen, vertraute Gesten und Umarmungen sind so selbstverständlich wie unschuldig. Mit dem Wechsel auf eine neue Schule trifft ihre Freundschaft auf nicht einmal bösartige, sondern ganz naive Neugier: Ob die beiden ein Paar sind? Sind sie verliebt? Freunde plus? Diese Fragen, dieser „ungeheuerliche Verdacht“ treffen vor allem Leo ins Mark seiner seelisch hochempfindlichen Vorpubertät, und langsam stößt er Remi von sich, in kleinen Gesten, da wird plötzlich auf Distanz geachtet, der Kopf des anderen weggeschoben, das Bett gewechselt, nicht mehr auf Remi gewartet, der seinerseits gar nichts mehr versteht: Wieso verhält sich sein bester Freund plötzlich so abweisend, stößt ihn zurück? Was hat er ihm denn getan?
Über diesen Film lässt sich kaum sprechen, ohne über das Drama zu reden, das sich etwa in der Mitte des Film ereignet, daher folgen nun SPOILER: Am Ende eines Busausflugs, bei dem Remi fehlt, werden die Kinder überraschend von ihren Eltern abgeholt, es ist was passiert, „Remi ist nicht mehr bei uns“. Die zweite Hälfte dieses hochsensiblen und unfassbar traurigen Films beschäftigt sich mit Leos Unmöglichkeit, den Suizid seines Freundes, an dem er sich die Schuld gibt, zu verarbeiten.
„Close“ wird nahezu vollständig aus Leos Perspektive erzählt, weshalb viele Fragen offen bleiben, wir erfahren beispielsweise so gut wie nichts über den Selbstmord an sich, selbst während der Beerdigung bleibt die Kamera konsequent bei Leo, der Schmerz der Eltern kommt nur indirekt zum Ausdruck. Die Kehrseite dieser Herangehensweise ist, dass Remis Motive ein wenig im Unklaren bleiben, die Geschehnisse, die Entfremdung der Jungs voneinander, rechtfertigen einen solchen Schritt im Grunde kaum und lassen Remis Handlung wenig schlüssig wirken. Möglicherweise hätte der Film noch besser herausarbeiten können, was das alles mit Remi macht. Regisseur Lukas Dhont entscheidet sich für einen anderen Weg, das muss man akzeptieren. Die Tat bleibt eben für uns so unerklärlich wie für Remis Eltern, für Leo. Nachvollziehbar wäre Remis Verzweiflung, wenn zwischen den Jungs mehr gewesen wäre als nur ihre Freundschaft, namentlich ein homoerotisches Motiv, möglicherweise auch nur einseitig von Remi ausgehend. Hierfür bietet der Film die eine oder andere Andeutung, ohne die Frage aber – so habe ich das empfunden – eindeutig zu beantworten. Das Etikett „schwuler Film“ passt hier überhaupt nicht, auch wenn die Biographie und das Werk des Regisseurs es nahe legen, den Film unter Trend-Begriffen wie „hetero-normatives Umfeld“ und „Geschlechterrollen“ zu diskutieren. Ich finde, dass der Film für diese Lesart zu wenig hergibt, aber das kann man sicherlich auch anders sehen. Simpel ausgedrückt ist es ein Film über das Ende der Unschuld.
Ich gestehe, dass „Close“ mir wirklich das Herz zerrissen hat. Das ist sicherlich beabsichtigt, aber keineswegs manipulativ. „Close“ entwickelt seine emotionale Stärke aus den herausragenden Leistungen seiner Darsteller und der feinen Beobachtung der Kamera. Dem im tatsächlichen Sinne Mit-Leiden, zunächst mit dem zurückgestoßenen Remi, dann mit Leo, der das alles zu verarbeiten hat und ein halbes Jahr braucht, um sich Remis Mutter wieder anzunähern und ihr schließlich zu gestehen, dass er Schuld an Remis Selbstmord hat oder sich zumindest schuldig fühlt. „Ein Speer, der direkt ins Herz trifft“, wie es im Trailer heißt, das ist „Close“ tatsächlich, und vermutlich bereits jetzt mein Film des Jahres.
"Wenn man sämtliche Schöpfungen des weißen Mannes von diesem Planeten entfernte, besäßen seine Ankläger weder Zeit noch Mittel, ja nicht einmal Begriffe, um ihn mit Vorwürfen zu überhäufen."