GoldenProjectile hat geschrieben: ↑16. Oktober 2023 21:48
Sehr schön, das wird ja schon fast ein kleiner (wenn auch zeitversetzter) Marathon unter uns dreien!
So kann man es nennen. Ich habe jetzt heute die erste Folge nochmal angeschaut und kann noch weniger verstehen, was an der nicht großartig sein soll. Keine Bange, ihr beiden, ich will gar nicht provozieren, ich bin nur wirklich erneut total begeistert gewesen. Es ergab vollkommen Sinn, mit dieser Geschichte die Serie zu eröffnen. Gut, es war auch die erste Doyle-Kurzgeschichte, womit es natürlich zu tun hat. Aber es passt deshalb so toll, weil es eine ganz wunderbare Mini-Charakterstudie von Sherlock Holmes ist. Keine andere Doyle-Vorlage etabliert und umfasst Holmes als Charakter so clever und spannend wie der Böhmen-Skandal. Schwache oder sogar dumme Holmes-Adaptionen (Gruß an die BBC) haben die Figur immer auf das verkürzt, was man in der ersten Szene mit Jeremy Brett hier sieht, als er vor dem Kamin hockt, mit etwas Kokain intus, und davon redet, sein Verstand brauche die Arbeit.
Ja, das ist Holmes, und ja, das ist sehr plakativ und wurde daher oft kopiert. Die Konsequenzen dieser Charakterisierung führt Skandal in Böhmen aber vor. Wenn man den Fall mal runterbricht, arbeitet Holmes in dieser Geschichte für den Antagonisten: Der König von Böhmen hatte vor einigen Jahren eine Affäre mit der Opernsängerin Irene Adler und war doof genug, mit ihr kompromittierende Fotos zu machen. Jetzt will er eine lukrative Hochzeit mit einer anderen Frau eingehen und hat Schiss, dass Adler das Foto publik macht und ihm ein saftiger Deal durch die Lappen geht. Also soll Holmes ihr das Foto stehlen. Kurz gesagt: Sherlock Holmes soll eine unschuldige Frau bestehlen, damit irgendein König nicht die Konsequenzen seines Handelns spüren muss.
Holmes und der König sind hier nicht die Guten. Irene Adler ist nicht die clevere Femme Fatale, als die sie später immer hingestellt wird. Sie ist das Opfer der Situation. Die gute Frau hat gar nichts falsch gemacht, und wird jetzt seit einiger Zeit von Einbrechern (im Auftrag des Königs) belästigt, plus bekommt einen genialen Detektiv an die Backe. Holmes nimmt den Fall an (denn sein Verstand braucht Arbeit), zeigt sich in der Folge aber mehrfach sehr siegessicher. Eine Frau wird er ja wohl überlisten können, und das sogar noch rechtzeitig, dass er es am Freitagabend lockerflockig zum Tschaikowsky-Konzert schafft. Natürlich rächt sich diese Haltung: Adler bemerkt, als Holmes verkleidet bei ihr auftaucht, was seine Absichten sind, trickst ihn aus und verduftet. Aber wichtiger noch: Mit ihrem letzten Brief ändert sie seine Sichtweise auf Frauen. Selbst der große Meisterdetektiv ist nicht immun gegenüber Vorurteilen gegen andere Kulturen oder in diesem Fall dem anderen Geschlecht. Durch Adler lernt er seine Lektion - und fortan ist sie für ihn nur noch "die Frau". Nicht, weil er sie liebt, wie oft interpretiert, sondern weil sie als erste Frau in seinem Leben nicht mehr nur "eine Frau" ist, sondern die eine, die ihn überlisten konnte.
Nun mag die Botschaft "Frauen können genauso schlau wie Männer sein" heute keine feministischen Jubelstürme mehr auslösen, aber im Jahr 1890 war das, verfasst von einem männlichen Autoren, schon eine ungewöhnliche Schlussnote. Und es funktioniert heute noch als effektive Heranführung an den Holmes-Charakter. Er ist ein Junkie, auf der Suche nach Geheimnissen und Mysterien, aber er ist nicht unfehlbar, seine Arroganz ist seine Schwäche. Ein toller Einstieg, ich freue mich auf die nächsten Episoden!