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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Pocahontas
Wie sehr darf man sich bei einem Disney-Zeichentrickfilm an historischer Genauigkeit stören? Und wie sehr sollte sich ein für Kinder gedachtes buntes Filmvergnügen um Authenzität überhaupt bemühen? Diese Frage muss sich der Micky-Maus-Konzern 1995 ebenfalls gestellt haben, denn zum ersten Mal in der langlebigen Geschichte der spielfilmfüllenden Kinderunterhaltung stand bei "Pocahontas" eine wahre Begebenheit Pate, und dazu noch eine aus einer wenig freudvollen Zeit der amerikanisch-britischen Vergangenheit: Die titelgebende Häuptlingstochter des Stammes der Virginia-Algonkin trifft auf den englischen Kolonisten John Smith und versucht, einen friedlichen Weg der Ko-Existenz zwischen ihren Völkern zu erzielen. Für die Disney-Variante eine simple Vorlage, um die üblichen Werte der Toleranz, des Pazifismus und der Kraft der unsterblichen Liebe pädagogisch wertvoll an die kleinsten Zuschauer zu bringen. Für die älteren Kinogänger bleibt ein unangenehmer Beigeschmack: Heiligt der Zweck die Mittel?
Ob den Disney-Machern nur ein Jahr nach "Der König der Löwen" direkt wieder der Sinn nach den Werken des Großmeisters William Shakespeare stand? War beim Löwenkönig "Hamlet" als Vorlage leicht auszumachen, so ist es hier nicht minder schwierig, in der Erzählstruktur der (fiktiven) Romanze zwischen Pocahontas und Smith die Parallelen zu "Romeo & Julia" zu erkennen, auch deshalb, weil auf dem Liebesdrama der beiden der Hauptfokus der Erzählung liegt und nicht wie üblich (etwa beim Disney-Vorgänger) als Dreingabe erfolgt. Funktionieren tut das durchaus, vor allem weil Pocahontas eine erstaunlich selbstbewusste, emanzipierte Frau ist, die ihr Schicksal selbst bestimmt und den Angebeteten nicht braucht, um sich zu definieren, was Disney im überraschenden Ende sogar konsequent durchhält. Alle anderen Charaktere haben hier weniger Glück: John Smith, der eigentlich die interessanteste Figur sein müsste, da er es ist, der seine zivilisierte Überheblichkeit zu hinterfragen lernt, bleibt arg oberflächlich, während sonstige Nebencharaktere (etwa der vom jungen Christian Bale gesprochene Thomas, Pocahontas Vater oder ihre beste Freundin) auf eine Handvoll Dialogzeilen kommen. Dramaturgisch arg schwach wirkt besonders der Mittelteil der eh nur 80 Minuten kurzen Handlung daher, weil der Villain alias Governor Ratcliffe selbst für Disney-Standards ein farbloser, schwacher Charakter ist, den man mit einem Scar kaum zu vergleichen wagt.
Hier liegt das Problem von "Pocahontas": Sicherlich könnte man darüber hinwegsehen, dass die Regisseure Eric Goldberg und Mike Gabriel die Geschichte schon arg verfälschen, um ihre naiv-idealistische Botschaft an den kleinen Mann und die kleine Frau zu bringen. Doch "Pocahontas" ist zu naiv, zu moralisierend, zu unsubtil. Gelang es Disney sonst oft, trotz ihrer eigentlich stets simplen Moralfabeln eine gewisse Doppelbödigkeit zu pflegen, geht diese der kitschigen Indianer-Handlung völlig ab. Verpacken andere Disney-Filme ihre Aussagen in klugen Metaphern, in bezaubernd schönen Bildern, wirft "Pocahontas" einem sein Anliegen flach entgegen: "They're not like me, this means they must be evil" ist da erschreckenderweise noch eines der am wenigsten plakativen Beispiele. "Pocahontas" richtet sich an ein sehr junges Publikum, doch bleibt fraglich, ob es dieses wirklich erreichen wird. Der sehr eckige, kantige und detailarme Zeichenstil, der den Protagonisten wohl eine gewisse optische Reife anhaften soll, wirkt zu farb- und leblos, und lässt die durchaus amüsanten Momente im "harten" visuellen Szenario wie Fremdkörper wirken. Überhaupt: Die komödiantischen Einschübe des Waschbären Meeko und Kolibris Flit sind mal amüsant, oft aber durch ihre Vielzahl zu penetrant und halten den eh schon kurzen Film mehr auf, als dass sie ihm nützen, schaden damit sogar der Dramatik der Haupthandlung.
Betrachtet man einen Disney-Film, muss man natürlich auf die Songs eingehen und spricht man von "Pocahontas", so summt vermutlich fast jeder Zuschauer direkt wieder "Colors of the Wind" vor sich hin. Zurecht, denn was der Disney-erfahrene Alan Menken hier gezaubert hat, ist eine fantastische Musical-Einlage, deren Visualisierung ebenfalls der Höhepunkt des sonst eher biedernen Films ist. In diesen 4 Minuten stimmt plötzlich alles: der optische Einfallsreichtum, das Gefühl, die Message. Packend vorgetragen ist "Colors of the Wind" eines der Highlights im Disney-Kosmos, umso schockierender, wie schwach und belanglos der restliche musikalische Output ausfällt. Die sehr gleich klingenden Melodien bleiben im Gedächtnis keinesfalls haften, und sind textlich dazu erschreckend unlyrisch. Erschreckend zudem, dass die Regie gerade in dieser Kerndisziplin Disneys versagt, nämlich die Lieder in einen sinnigen Kontext innerhalb des Öko-Märchens zu setzen, meist wirken sie eher deplatziert und ungelenk ins Plotgerüst integriert, auch wenn "Savages" immerhin in eine interessante Einstellung mündet, in der "Pocahontas" ein berühmtes Gemälde von Alonzo Chappel deutlich zitiert. Ästhetische Einfälle dieser Art hätte es deutlich mehr gebraucht. Die Sprecherleistungen sind dafür durchgehend akzeptabel (wenngleich Mel Gibson mit seinem Akzent auf Smith etwas befremdlich wirkt), während man wie beim Thema der Verfälschung der Historie über die spirituellen und esoterischen Elemente des Films streiten kann. Linda Hunts Rolle als sprechende Weide fügt sich absolut organisch in die Geschichte ein, aber nicht immer gelingt die Balance dieser Elemente. A propos Balance: Wohl kaum ein anderer Disney-Film setzt so sehr auf die suspension of disbelief und überstrapaziert seine Cartoon-Physik bereits im Intro. Über die Sinnhaftigkeit dieser Einschübe kann man geteilter Meinugn sein, verwirrend sind sie im Hinblick auf den realistischen Zeichungsstil aber dennoch.
Fazit: Wenn "Pocahontas" am Ende den Frieden zwischen den Indianern und Kolonisten glorifiziert, dann ist das natürlich reichlich heuchlerisch im Hinblick auf die spätere Assimilierung ganzer Stämme durch den weißen Eindringling. Ob es wirklich nötig war, für "Pocahontas" auf reale Ereignisse zurückzugreifen, ist durchaus kontrovers zu sehen und für Historiker ein gefundenes Fressen, um den Kinderfilm zu zerlegen. Leider ist der Disney-Streich auch ganz unabhängig von dieser Sinnfrage recht belanglose und ideenarme Einmalunterhaltung, die außer ihrer zumindest meist geglückten Darstellung der Titelfigur und dem famosen Filmsong "Colors of the Wind" weit hinter den Erwartungen von Jung und Alt zurückbleibt und damit qualitativ seiner Kontroverse gar nicht gerecht wird.
4/10
https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/
Let the sheep out, kid.