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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Black Swan
Zuerst ein Grand jeté, in der Luft ein Arabesque, bevor auf ein Fouetté en tournant und eine Pirouette ein Ailes de Pigeon folgt. Doch Grazie und technisches Können allein reichen der Primaballerina Nina im 2010er "Black Swan" von Darren Aronofsky noch lange nicht, um die einmalige Doppelrolle ihres Lebens auszufüllen: Sie soll in einer modernen Adaption von Pjotr Iljitsch Tschaikowski's "Schwanensee" sowohl den unschuldigen, lieblichen, reinen weißen Schwan Odette als auch den ihrem Wesen fernen dunkel-anziehend, verführerischen schwarzen Schwan Odile verkörpern. Ihr Perfektionismus stößt da an ihre Grenzen, wo sie mit hyperkontrollierter Selbstbeherrschung nur verlieren kann: Ihrer Odile mangelt es an Erotik, an Charisma, am natürlichem Sujet. Und so erzählt "Black Swan" von einem Danse Macabre, von den unerbittlichen Qualen des Method Actings, wenn die Psyche dem fragilen Körper ein verzweifeltes Gnothi seauton aufzwingt.
Regisseur Aronofsky ist noch nie als Mann der leisen Zwischentöne bekannt gewesen, und so macht er sich den exzessiven Ausdruck des Balletts zu Gunsten, um durch ihn seine theatralische filmische Ausgestaltung zu rechtfertigen. Was als Milieustudie und präzise beobachtetes Drama einer jungen Frau zu beginnen scheint, entwickelt sich bald zu einem anschwellenden Psychothriller mit eindeutiger Horrorfilm-DNA, der zwischen Wahnvorstellungen und Schockmomenten an Subtilität kaum Interesse zeigt. Je mehr Nina ihr zerbrechliches Selbst transzendiert, je mehr sie sich der Metamorphose ihrer Rolle hingibt, umso mehr verliert sich ihre bisherigen Wesenszüge: Aronofsky fragt nach dem Zusammenhang zwischen Geist und Körper, aber auch nach der Wechselwirkung von Sex und Kunst. Nina's sexuelle Unerfahrenheit (besonders deutlich in ihrem rosarot tapezierten Zimmer in der Wohnung der Mutter, das Bett von Kuscheltieren dominiert) ist das, was ihr bei der Annahme von Odile im Weg steht. So muss sie erst nach und nach ihre Triebe und Sinnlichkeiten erforschen, bekommt vom Tanzdirektor die Masturbation als Hausaufgabe verordnet, der selbst hervorgerufene Orgasmus soll in ihr jenes animalische Verlangen nach Laszivitäten wecken, doch es wird erst Tanzkonkurrentin Lily sein, deren luder- und lasterhaftes Auftreten sie zu einen Ausflug in das Nachtleben Los Angeles' und fortan in den Wahnsinn treibt.
Mit Natalie Portman als Hauptdarstellerin ist Aronofsky ein Glückstreffer gelungen. Sie meistert mit facettenreichen Akzenten alle Stufen ihrer komplexen Rolle, und macht nicht nur die zentrale Wandlung Ninas absolut glaubhaft, sondern weiß auch die vielen kleinen Herausforderungen der jeweiligen Szenen mühelos und doch mühevoll ausschauend nach außen zu tragen. Ninas nah an der Bulimie befindliche, von Dermatillomanie gezeichnete Zerbrechlichkeit, schwebt über ihrem Minenspiel wie ein Damoklesschwert und was sie in den hypnotischen Tanzszenen nur über ihre Augen, über ihr Stöhnen und ihre Leidenschaft transportiert, überragt jeglichen Zweifel an der Echtheit des Martyriums ihres Charakters. Für 108 Minuten lebt Portman den weißen Schwan, der eigentlich der schwarze Schwan sein möchte. Doch könnte die talentierte Schauspielerin nicht so grandios auftrumpfen, würden ihr ihre Nebenakteure nicht derart glänzend die Bälle zuspielen: Vincent Cassel begeistert als Agent Provocateur in Gestalt des diabolischen Ballettdirektors, und Mila Kunis steht die hinterhältige Schlange so gut zu Gesicht, dass ihr selbstbewusst viriles Auftreten der im Script simplen Gegenüberstellung von Mauerblümchen Nina und Sexbombe Lily eine ungeahnte, vielleicht sogar ungewollte Tiefe indoktriniert. Einzig Barbara Hershey kann sich als Ninas fast schon vom Erfolg ihrer Tochter besessene Mutter nie aus der Klischeehaftigkeit ihrer Rolle befreien, bleibt eine abstrakte, funktional ausgerichtete Drehbuch-Konstruktion.
In ihr verdeutlicht sich gut, weshalb die Intentionen der Regie sich gelegentlich als überambitioniert entlarven. Immer wieder an erkennbaren Genrevorbildern (auch literarischen, etwa "Der Doppelgänger" von Fjodor Dostojewski) orientiert ist der vornehmlich in Handkameras gefilmte "Black Swan" eine Mischung aus großem Suspense, echtem Thrill im Stile der Altmeister Alfred Hitchcock oder Brian De Palma und den Elementen des trashigen Gore-Kinos, stets gefilmt in der Aufmachung des Dokumentarfilms. Der Cinéma vérité Look ist omnipräsent, besonders, wenn Aronofsky mit seiner Kamera gefühlt minutenlang stoisch dem Hinterkopf von Portman durch die Straßen bis zur Tanzprobe folgt. Seine visuelle Aufmachung, besonders die Horroreffekte, sind effektiv, präzise gesetzt und schocken, doch fallen sie nicht selten auch plakativ und platt aus, wenn etwa Nina aus einer selbst erzeugten Rückenwunde eine schwarze Feder herauszieht, ist dies zu eindeutig und überladen in seiner Symbolik. Die Parallelen zur "Schwanensee"-Handlung beschränken sich auf die schon in Titel und Prämisse ausgestellte Schwarz-Weiß-Kontrastierung, die elementare Bedeutung der Clubnacht Ninas wird in lässiger kaleidoskopischer Schnittfolge zum Exzess getrieben. Das alles entwickelt ein eigenes Pacing, einen eigenen Look, eine eigene kühle Atmosphäre im Sinne eines Stanley Kubrick Films, doch ergründet es nie die Tiefen, die eine Charakterstudie verlangt, womit "Black Swan" mehr spannende, gruselnde Unterhaltung denn analytisches Psychogramm darstellt.
Fazit: Es tut gut, dass Filmkomponist Clint Mansell fast durchgängig auf den musikalischen Themen Tschaikowskys' aufbaut. Die träumerische Romantik und die in der Tat tänzerischen Darbietungen insbesondere der Hauptdarstellerin Natalie Portman erweisen sich als die größte Stärke des Films, auch wenn früh klar wird, dass hinter der Staffage des Balletts finstere Abgründe liegen. Das bemerkenswerte an "Black Swan" ist seine fehlende Berührungsangst, die Mittel großer filmischer Glanztaten genauso eindeutig zu zitieren wie sie mit campigen Elementen der Trivialunterhaltung zu vermengen, und beides nur als Aufhänger für eine moderne Adaption der "Schwanensee"-Geschichte zu nutzen. Aus diesen ungleichen Inspirationsquellen gewinnen Aronofsky und sein Film eine heimliche, verborgene destruktive Energie, die das unweigerliche tragische Crescendo früh einleitet und in seiner finalen Wirkung begünstigt, was "Black Swan" gleichermaßen mitreißend wie auch absurd werden lässt.
8/10
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Let the sheep out, kid.