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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Ja, in den letzten Wochen/Monaten habe ich hier gar keine Reviews geliefert. Gründe dafür gibt es einige: Eine kleine private Krise, dazu auch eine Schreibblockade, wenige Kinobesuche meinerseits und zweifellos auch ein wenig die Unlust, den eigenen Text in der Reviewflut hier einfach untergehen zu sehen (aber diese kleine narzistische Denkweise sollte ich durchaus auch selbstkritisch sehen). Doch es ist wie immer mit seinem Lieblingshobby: Irgendwann kehren Lust und Inspiration wieder zurück. Oft braucht es dafür nur den richtigen Film...
Widows
Es gibt Filme, da ist nach wenigen Sekunden alles gesagt. In "Widows" sehen diese ersten Momente so aus: Ein Paar liegt im Bett und küsst sich leidenschaftlich. Sie sind beide über 50, der Mann weiß, die Frau schwarz. Ihre Zungen dringen exzessiv in den Mund des anderen ein, dann ein harter Cut. Derselbe Mann, jetzt mit drei anderen Männern, maskiert und bewaffnet unterwegs, flieht von einem Raubüberfall. Einen weiteren Zwischenschnitt zum Ehegeschehen unter der Dusche später lässt er in einem Feuerball beschossen von unzähligen Polizisten sein Leben. In dieser kurzen Paralellmontage erzählt Regisseur Steve McQueen alles, was man über seinen Film wissen muss. Denn obwohl sich der Plot um drei Witwen dreht, die nach dem Tod ihrer kriminellen Gatten ihr eigenes Ding planen müssen, um den mörderischen Auftraggeber ihrer Männer zu bezahlen, ist "Widows" kein Heist-Movie, kein Thriller, und nicht mal ein echter Genrefilm, sondern eine komplexe Reflexion über den Menschen als soziales Wesen.
Obwohl es sich bei dieser Prämisse anbieten würde, ist "Widows" kein Film über tödlich coole Amazonen, die mit Todesblick und nervösem Finger am Abzug auf Rachetour gehen. Viel mehr entspinnt sich im vollgepackten Drehbuch von McQueen und Autorin Gillian Flynn nach loser Vorlage einer britischen Miniserie von 1983 ein breites Gesellschaftsporträt. McQueen nutzt das Genre des Heist-Thrillers nur lose für die innerfilmische Struktur, transzendiert sämtliche Genre-Elemente aber zu einem Konglomerat aus Politik, Emanzipation und menschlichen Abgründen. Seinen drei Protagonistinnen Veronica, Alice und Linda begegnet er mit Achtung und Mitgefühl, und lässt sie in ihrer Trauer um den schweren Verlust und das eigene "Erbe" wachsen: Veronica sieht sich durch den kriminellen afroamerikanischen Politiker Jamal bedroht, der sein Geld zurückwill, Alice ist den Misshandlungen ihres toten Mannes entkommen, aber dafür in einen Escort-Service abgerutscht und Linda muss erfahren, dass ihr privates Geschäft hinter ihrem Rücken vom verstorbenen Lebensgefährten verzockt wurde. Wie diese drei unterschiedlichen Frauen aus existenzieller Angst heraus eine Zweckgemeinschaft formen, gehört zu den großen Momenten des Filmjahres 2018. McQueen gelingt es dabei, die existentialistische Verzweiflung aller Akteurinnen so authentisch begreiflich zu machen, als würde man ihnen persönlich nahekommen. Auch danach geht er nie den einfachen Weg: Sämtliche körperlichen wie seelischen Anstrengungen auf dem Weg zum großen Überfall bekommen ebenso ihren Platz wie die lang andauernde Überzeugung des Trios, eigentlich nicht in die Kriminalität abrutschen zu wollen.
Parallel folgt McQueen aber auch einem anderen Machtkampf des Handlungsorts Chicago, wo der politische Außenseiter Jamal mit dem verlangten Geld versuchen möchte, seinen Wahlkampf gegen den schmierig-versnobten Tom Mulligan, den Stammhalter einer alteingesessenen lokalen Politdynastie, zu finanzieren. Dieser würde selbst eigentlich dem achtzehnten Bezirk Chicagos gern den Rücken zukehren, ist aber als Thronfolger seines Vaters zur Ortstreue verdammt. Wie auch bei den drei Witwen vereint sich in diesem Subplot eine Geschichte über tragische Charaktere, die verzweifelt versuchen, sich aus ihrer Statusfatalität zu erheben. Die (durchaus perfekt besetzten) Darsteller brauchen da nur noch ihr Übriges tun, um diesen bereits auf dem Papier faszinierenden Figuren Leben einzuhauchen. Colin Farrell als Mulligan brilliert dabei wie lange nicht mehr, sowie Schauspiellegende Robert Duvall als dessen Vater und Politoligarch auftrumpft. Viola Davis, Michelle Rodriguez und Elizabeth Debicki sind als Frauentrio absolut grandios, besonders Davis entspricht mit ihren bebenden Lippen und eiskalten Wimpernschlägen der suggestiven Kraft jener Bilder, die McQueens Kameramann Sean Bobbitt unvergleichlich zu kredenzen weiß. Und zusätzlich schockiert Daniel Kaluuya in einer der beängstigsten Rollen der jüngeren Kinogeschichte. Als gnadenloser Schuldeneintreiber im Dienste Jamals ist er mehrfach in unerträglich brutalen und sadistischen Gewaltszenen zu sehen, die einen so perfide wie nichts vergleichbares 2018 erwischen können.
Das alles bildet den Rahmen für einen Blick in ein Gesellschaftsviertel, welches von Korruption, Armut, Rassimus, Polizeigewalt und Gang-Kriminalität geprägt ist und in welchem sich die trauernden Witwen zu verorten versuchen. Und das dieser ambitionierte, gewalt(tät)ige und oft berührende Film nicht überfrachtet wird, liegt an der unglaublichen visuellen Erzählkunst seines Regisseurs. Wenn McQueen etwa den Tod eines schwarzen Jugendlichen durch übereifrige Cops zeigt, passiert dies unter den mahnenden Augen eines vergilbten Werbeplakats für Ex-Präsident Barack Obama. Und in einer anderen großartigen Plansequenz fährt Tom Mulligan mit seiner Sekretärin vom Wahlkampftermin in den Slums aus nach Hause - und während er im Auto tobt, bleibt die Kamera nur auf der Motorhaube und zeigt uns die vorbeiziehenden Häuser, vom Elends- ins Reichenviertel. Von der einen in die andere soziale Realität sind es nur drei Kurven. In diesen Momenten merkt man, dass hier ein Epiker des postmodernen Kinos die Zügel in der Hand hält und das es bei "Widows" viel mehr um die Welt geht, in der die Personen handeln als um klassische Suspense-Elemente. Erst in den letzten 25 Minuten verdichtet McQueen seinen Plot, und ergibt sich den funktional gemeinten Genre-Elementen mit entsprechend pulsierendem Score von Hans Zimmer, verbleibt dafür aber bei einer meisterhaften Konklusion: Offen, aber doch endgültig, bittersüß, aber nicht zu versöhnend.
Fazit: In den Hochzeiten der Serien-Unterhaltung hat sich David Simon mit "The Wire" einen Namen gemacht. Die vielschichtige, überkomplexe Geschichte der Kriminalität in Baltimore aus verschiedenen Perspektiven über einen Zeitraum mehrerer Jahre galt stets als das Paradebeispiel für Formate, die so im Kino nicht funktionieren können. Doch da hat man die Rechnung ohne Steve McQueen gemacht: Dem gelingt mit "Widows" nicht nur eine konzentrierte Analyse sozialer Ungleichheiten in Problembezirken, sondern durch geschickte Verdichtung auch ein großes, existenzielles Figurendrama vor dem Hintergrund einer formalen Genregeschichte, über Frauen, die sich nicht emanzipieren, weil das dem Bild der modernen Frau entspricht, sondern weil sie die Schnauze voll haben - und über Frauen, die einen bewaffneten Überfall auch deshalb begehen, weil dies letztlich weniger gefährlich ist als weiter in der Welt zu existieren, in der sie sich befinden. Und das dies nicht nebenbei, sondern stets miteinander verzahnt und gleichzeitig geschieht, ist eines der großen Wunder dieses Films und der Grund, warum man sich bei "Widows" keine Sekunde von der Leinwand abwenden kann.
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Let the sheep out, kid.