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von GoldenProjectile
'Q Branch' - MODERATOR
Eyes Wide Shut (1999, Stanley Kubrick)
Meisterregisseur Stanley Kubrick, Magier der bewegten Bilder und bewundernswert brillanter Geschichtenerzähler, verstarb nur wenige Tage nach der endgültigen Fertigstellung seines dreizehnten Spielfilms Eyes Wide Shut. Über zehn Jahre waren vergangen seit er das letzte Mal die Leinwand verzaubert hatte, in der Zwischenzeit musste er manche seiner geplanten Projekte verwerfen, darunter sein lange herbeigesehnter Napoleon-Film, während er das Science-Fiction-Epos Artificial Intelligence, das später von Steven Spielberg als überladener Märchenkitsch verbraten wurde, nie in Angriff nehmen konnte. Für seinen letzten Film aber nahm sich Kubrick noch einmal Zeit und realisierte die im wahrsten Sinne des Wortes traumhafte Erzählung sowohl als absolute Herzensangelegenheit wie auch als überwältigendes Schlusskapitel seines filmischen Vermächtnisses.
Ein Filmemacher wie Kubrick hat es definitiv nicht nötig, jeden Film durch verwinkelte Handlungskonstrukte, fantastische Szenarien und überbordende Actionszenen aufzupeppen. Eyes Wide Shut, übrigens ein wunderschöner Titel mit einem elegant paradoxen Wortspiel, beweist dies mit Nachdruck. Der Film erzählt in stark gewählten zweieinhalb Stunden ein kurzes, simples, beinahe schon banales Fragment aus dem Leben eines scheinbar durch und durch normalen New Yorker Arztes, gespielt von Tom Cruise. Nachdem der Arzt von seiner Frau in ihre nicht immer ganz treue Gedankenwelt eingeweiht wurde, irrt er verstört und nachdenklich durch die Stadt und gerät dabei in ein Abenteuer, das sein Leben und seine Weltanschauung unerwartet auf den Kopf stellt. Der aufgrund seines bedenklichen Privatlebens leider viel zu oft verpönte und verhöhnte Cruise bezeugt in dieser Rolle dass er durch seine Leinwandpräsenz und sein Engagement nicht nur grosse Blockbuster tragen kann, sondern auch zu einem ziemlich guten Schauspieler heranwächst, sobald man ihm einen Regisseur vom Kaliber eines Kubrick oder Scorsese vor die Nase setzt. Ihm zur Seite steht ein ganz feiner und treffend besetzter Supporting Cast, der sich aus der göttlichen Nicole Kidman, Sydney Pollack, Todd Field, Alan Cumming, Rade Šerbedžija, Marie Richardson und Sky Du Mont zusammensetzt.
Wenn es ein Musterbeispiel für eindrückliches, fantasievolles und visuell berauschendes Storytelling geben müsste, so wäre Eyes Wide Shut mit ziemlicher Sicherheit ein heisser Anwärter auf den Titel. Kubrick formt aus der sehr einfachen und in Worten wahrscheinlich schnell erzählten Geschichte kurzerhand einen unerhört stimmungsvollen, faszinierenden, verzaubernden und spannenden Bilderfluss, dessen visuelle Schönheit, die gleichzeitig effektvoll die Handlung vorantreibt, mit Worten schwer zu beschreiben ist. Daraus entfaltet sich eine sehr einfühlsame, magische und gleichzeitig verstörende Atmosphäre, die dem abenteuerlichen und fesselnden Mystery-Drama zusammen mit einem Schuss prickelnder Erotik endgültig den letzten Glanz verleiht. Der ganze Film erscheint mir auf all seinen Ebenen wie ein wundervoller Traum, den man noch lange weiter geniessen möchte und bei dem man sich nach einer gewissen Zeit insgeheim wünscht, nie mehr aufzuwachen. Und trotzdem zieht das ehrliche und konsequente Ende einen perfekten Schlussstrich. Nicht nur unter diese eindrucksvolle Reise, die ich an der Seite von Tom Cruise durchlebt habe, sondern auch unter das ewig währende Lebenswerk eines Meisterregisseurs.
Wertung: mindestens 9 / 10
Ich habe ausserdem das Wochenende zuvor mal wieder Clockwork Orange angeschaut, der bei jedem Mal dass ich ihn sehe besser, unterhaltsamer und aufregender zu werden scheint. Clockwork Orange und Eyes Wide Shut sind auch zwei Filme die sich wundervoll untersuchen lassen in Bezug auf ihre erheblichen Unterschiede, die aber doch beide durchgehend die grandiose Handschrift ihres Machers tragen.
We'll always have Marburg
Let the sheep out, kid.