Der Killer war der Geliebte von Bettys Mutter, diese stiftete ihn dazu an junge Frauen vor ihren Augen zu quälen und töten zu ihrem Lustgewinn (daher durchzieht das Thema „Sehen“ auch den ganzen Film beginnend mit der ersten Einstellung des Krähenauges, dem Opernglas des Killers, den mit Nadeln zwangsweise geöffneten Augen, dem herausgepickten Auge des Killers, dem Schuß durch den Türspion sowie vielen subjektiven POV-Kamereinstellungen, am auffälligsten sicher der brühmte „Krähenflug“ in der Oper). Als „Belohnung“ gab sie sich ihm dann hin. Als Kind beobachtete Betty einen dieser Morde und ist seitdem traumatisiert und leidet unter Alpträumen, die sie aber nicht einordnen kann, da sie das traumatische Erlebnis verdrängt hat. Der Killer vermeint nun in Betty die gleichen Charakterzüge zu erkennen und beginnt daher das gleiche „Spiel“ wie seinerzeit mit der Mutter in der Hoffnung (bzw. wohl eher in der Überzeugung), dass auch Betty sich ihm hingibt.
Ein zugegebenermaßen die Glaubwürdigkeit stark strapzierender Figurenhintergrund, aber das ist für Argento nichts ungewöhnliches. Interessant an der Konstellation ist, dass in letzter Konsequenz die Mutter die eigentliche „Täterin“ ist und der Killer in gewisser Weise auch nur ein Opfer seiner Liebe bzw. Abhängigkeit zu ihr ist.
Um den Schluss von Opera besser einordnen zu können hilft es die Entstehungsgeschichte und die Vita von Argento etwas besser zu kennen, hier mal ein bisschen Trivia:
- Die von dir erwähnten Parallelen zu Thomas Harris Red Dragon sind nicht zufälliger Natur, im Gegenteil machte Argento von Beginn an keinen Hehl aus seiner Bewunderung für Harris Roman und der Tatsache, dass er seinen Opera-Schluß diesem „entliehen“ hat. Argento gefiel es nicht, dass in der ersten Verfilmung des Romans durch Michael Mann vieles stark verändert wurde, u.a. auch der „Doppelschluß“, auch daher nutzte er Opera als seine Quasi-Version von Red Dragon. Ob man das nun als Inspiration, Hommage oder dreisten Klau ansieht ist letztlich Ermessenssache, allerdings muss man Argento zu Gute halten, dass er hier von Anfang an mit offenen Karten spielte und nie vorgab, die finalen Szenen seien alleine auf seinem Mist gewachsen (besonders die Szene in der Oper mit dem ausbrechenden Feuer ist praktisch 1:1 aus dem Roman übernommen).
- Die finale Sequenz von Opera auf dem Berg ist in mehrerer Hinsicht eine Hommage/Anspielung an Argentos direkt vor Opera entstandenen Film Phenomena. Die auf einer verlassenen schweizer Bergalm spielende Anfangsszene in Phenomena ähnelt auf frappierende Weise der Schluß-Sequenz von Opera, auch Bettys mädchenhaftes Outfit weckt Erinnerungen an das ähnliche Kleid von Phenomena-Protagonistin Jennifer (Connelly), welche eine Leidenschaft für die Natur und insbesondere Insekten hat (auch hier wieder der direkte Verweis in der „Umarmung der Natur“-Abschlußeinstellung von Opera). Auch die Connelly-Figur ist eine Aussenseiterin, die sich aufgrund ihrer „Andersartigkeit“ von ihrem direkten sozialen Umfeld stark abgrenzt.
- Die von Ian Charleson gespielte Figur des Regisseurs Marc ist unverkennbar eine Art Alter Ego von Argento, da ebenfalls originär von der Kritik missverstandener Horrorregisseur mit einer Vorliebe für Gewaltszenen und Opern-Inszenierungen. Unterstrichen wird dies durch die Einstellung, in der Marc Probeaufnahmen von einer Fliege für seinen nächsten Film macht. Argento zeigt hier seinem Publikum mit einem Augenzwinkern, wie er in seinem vorherigen Film einige der Trickeffekte bewerkstelligt hat. Man kann diese Verbindung von filmischer Fiktion und Realität auch noch weiterspinnen, indem man Opera als eine Art „Prequel“ zu Phenomena sehen kann: Marcs nächster Film könnte durchaus Phenomena sein,
allerdings kommt er ja aufgrund seines Schicksals nicht mehr in den Genuss diesen drehen zu dürfen, ergo muss(te) Argento übernehmen.
Die finale, von Argento fast schon surreal in Szene gesetzte Auflösung lässt sich nicht so recht in die Karten schauen, was sie dem Publikum eigentlich vermitteln will. Je nachdem, ob man dem Film als Zuschauer nun ein Happy End oder eben keines zugestehen will drängen sich zwei grundsätzliche Interpretationsmöglichkeiten auf:
1. Befreiung von den Dämonen der Vergangenheit
Bei dieser „Happy End“-Variante stellt die Gefangennahme des Killers und vor allem Bettys bewusste Entscheidung, sich in ihrem Tun von ihrer Mutter abzugrenzen (sie spielt dem Killer nur vor, sich ihm analog zu ihrer Mutter hinzugeben und haut ihm stattdessen einen Stein über den Kopf. Ihre Abgrenzung bringt sie mit den Worten „ich bin nicht wie meine Mutter“ auch verbal zum Ausdruck) eine Katharsis dar. Die den ganzen Film über gequälte Seele von Betty (was vor allem in den Alptraum-Sequenzen, aber auch in ihrem merkwürdigen Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen zum Ausdruck kommt) ist nun endlich befreit. Statt den dunklen Szenen in der Oper und anderen Gebäuden in der Großstadt ist sie nun in der Lichtdurchfluteten Natur, welche als Metapher für ihr wiedererlangtes inneres Gleichgewicht angesehen werden kann. Ebenfalls mataphorisch kann die Befreiung der Eidechse verstanden werden, Betty befreit sie aus dem tiefen Gras mit den Worten „Du bist frei“ – womit zum Ausdruck gebracht wird, dass letztlich auch sie frei ist von den Dämonen der Vergangenheit.
2. Flucht aus der Realität in die Infantilität
Bei dieser Interpretationsmöglichkeit erlangt Betty nicht ihr geistiges Gleichgewicht zurück, sondern verliert im Gegenteil durch die erneut traumatisierenden Ereignisse auf der Alm (der Tod Marcs vor ihren Augen, die Konfrontation mit ihrer eigenen Vergangenheit bzw. der ihrer Mutter sowie der Tatsache, dass sie letztlich der Auslöser für all die Morde war) auch den letzten Bezug zur Realität und flüchtet sich stattdessen in eine kindlich-naive Fantasiewelt. Sie grenzt sich komplett von ihrer Umwelt ab („ich bin nicht wie ihr, ich bin anders“) und verabschiedet sich endgültig aus der „Welt der Erwachsenen“. Dazu passt, dass die Inszenierung den ganzen Film über Zweifel streut bezüglich ihrer geistigen Gesundheit (auch hier wieder: die quälenden Alptraumsequenzen und ihr merkwürdiges Verhalten, so läuft sie beispielsweise zwei mal einfach vom Ort eines Mordes weg und ignoriert scheinbar das Vorgefallene komplett statt beispielsweise die Polizei zu alarmieren).
Zudem wird Betty jederzeit strikt von der „Welt der Erwachsenen“ abgegrenzt. Das beginnt bereits damit, dass sie sich für zu jung für die Rolle der Lady Macbeth empfindet (=ihr Selbstbild ist eher das eines Kindes), dass sie eigentlich keine echte Beziehung zu einer anderen erwachsenen Figur hat (noch am ehesten zu ihrer Agentin, die eine Art Mutterrolle einnimmt, Marc könnte man u.U. als eine Art „Stiefvater“ ansehen), dass sie trotz ihres Alters keinen Zugang zur Sexualität findet (sie sagt nach der missglückten Liebesnacht mit ihrem jugendlichen Verehrer ja auch, dass sie an Sex nie wirklich Interesse hatte: ein weiterer Verweis auf ihren kindlichen, unreifen Charakter). Die einzige Figur, die mit ihr und mit der sie scheinbar problemlos interagieren kann ist dann auch passenderweise die kleine Nachbarstochter. Geht man nun also davon aus, dass Betty am Ende des Films den Bezug zur Realität engültig verliert, so kann man die „Umarmung der Natur“ durchaus als eine Art engültige Rückkehr in die Infantilität ansehen. Statt der Welt der Erwachsenen, welche in Opera für Dunkelheit, Rivalität, Gewalt und Mord steht wählt sie bewusst oder unbewusst eine kindlich-naive, unschuldige Welt in Form einer lichtdurchfluteten, idealisierten Natur. Nüchtern betrachtet hat sie aber ihren Verstand verloren.
Bei meiner ersten Sichtung von Opera war das stilistisch und inhaltlich scheinbar gar nicht zum Rest des Films passende Ende auch etwas enttäuschend und fühlte sich schwach und bizarr an. Nach wiederholten Sichtungen schätze ich das von Argento sehr bewusst ambivalent und abgrenzend inszenierte Ende aber sehr, da es den Zuschauer zum Mitdenken animiert. Zudem ist es ein durchaus gelungener Abschluß für die den ganzen Film über subtil verteilten charakterlichen Hinweise – egal in welche Richtung man das Ende nun interpretiert. Ich für meinen Teil tendiere eher zur zweiten desillusionierenden Variante, gehe angesichts Argentos Faible für Märchen und heile Natur aber eher davon aus, dass er selbst wohl die erste Variante im Sinn hatte, auch wenn er sie nicht explizit vorgegeben hat.