AnatolGogol hat geschrieben: 28. April 2019 09:09
Ich habe gestern zum zweiten mal Prisoners gesehen und könnte von den Villeneuve-Fans mal etwas Hilfe gebrauchen. Kann mir jemand folgende inhaltliche Passagen etwas genauer darlegen? Ich setze mal vorsorglich Spoiler:
1.) Bei der Leiche, die Gyllenhaal im Keller des Priesters findet handelt es sich ja offenbar um den Ehemann von Melissa Leo. Aber wie ist denn die Verbindung zwischen dem Priester und der Leiche? Hat der Priester ihn getötet und wenn ja warum? Warum kam er überhaupt zum Priester und hat ihm von seinem "Krieg mit Gott" erzählt? Der Priester wird ja als aktenkundiger Päderast eingeführt, aber in wie weit hat das etwas mit der Leiche zu tun, der ja ganz andere Absichten mit den entführten Kindern hat?
2.) Was genau hatten die Entführer mit den Kindern vor? Leo sagt, es waren unzählige, die sie im Laufe der Jahre entführt haben. Das Motiv wird erläutert, aber warum haben sie die Kinder so vergleichsweise lange am Leben gelassen? Ich gehe mal davon aus, dass sie die Kinder nach einer gewissen Zeit mittels Giftspritze getötet haben (wie Leo es am Ende mit Jackmans Tochter vorhat), aber warum sie erst noch Tagelang am Leben lassen und somit zusätzliche Riskien eingehen?
3.) Warum haben die Entführer Paul Dano als erstes entführtes Kind am Leben gelassen? Als "Quasi-Ersatz" für ihren toten Sohn? Oder weil er geistig zurückgeblieben war und damit leichter manipulierbar als "gefügiges Werkzeug"?
Würde mich freuen, wenn mir hier jemand auf die Sprünge helfen könnte.
Ich helfe nach der eigenen Zweitsichtung pünktlich zwei Jahre zu spät gerne auf die Sprünge.

Hoffentlich ist bei dir in der Zeit genug inhaltlich konkretes hängengeblieben, dass du damit noch etwas damit anfangen kannst.
Ich habe auch noch ein paar andere Meinungen per Google eingeholt und überflogen. Generell ist Prisoners ein Film, dessen Handlungsgeflecht auf dem Papier etwas konstruiert wirkt und nicht immer alles wirklich logisch erklärt werden kann, was aber durch die effiziente Inszenierung ausgeglichen wird. Ich versuch's mal.
1. Ja, der Priester hat ihn getötet, so wie ich das verstanden habe. Mr. Jones hatte laut seiner Frau vor ein paar Jahren Streit mit ihr und ist kurz darauf spurlos verschwunden. Wahrscheinlich hatte er plötzlich Reue oder zumindest Zweifel bezüglich seiner Untaten (das Ehepaar war ja vor dem Tod des Sohnes streng religiös, möglicherweise hat ihn sein frühere Glaube wieder zu Sinnen gebracht), daher der Streit und die Beichte beim Priester, der von Jones' Geständnis aber so angewidert war, dass er ihn umgebracht hat bzw. in seinem Keller hat sterben lassen. Das ist ein ziemlicher Brocken, aber der Priester ist ja selber nicht ganz sauber, wird als Säufer und als aktenkundig in Bezug auf Kindesmissbrauch (welcher Art und Schwere auch immer, er muss ja nicht gleich ein Vergewaltiger o.Ä. sein) dargestellt. Dass der Priester selber eine Vorgeschichte mit Kindern hat ist aber mehr ein "Plot Device", um Gyllenhaal auf seine Spur zu bringen, der klappert ja systematisch alle vorbestraften ab.
2. Ich weiss nicht ob es im Film wirklich eine Logik oder ein System bezüglich der Entführungen gibt. Womöglich ist Leo als Einzeltäterin ohne ihren Mann und nach einer mehrjährigen Pause da auch anders vorgegangen als früher. Der rote Hering ist psychisch ja so sehr gestört ("rekreiert" die Taten mit Schlangen, Labyrinthen, Puppen und Schweineblut und hält sich selbst für den Entführer, siehe sein Geständnis) dass ich davon ausgehe, dass er deutlich länger als ein paar Tage in Gefangenschaft war bevor er fliehen konnte, damit dieses tiefliegende Trauma mit seelischem Schaden auch Sinn ergibt. Insgesamt lohnt es sich aber wohl nicht wirklich, sich Gedanken zu machen ob Mr. und Mrs. Jones bei ihren Entführungen ein sinniges und einheitliches System hatten, das ist also eine Frage die ich so nicht wirklich logisch beantworten kann.
3. Ich habe es von dem Moment an als Leo vom Tod ihres Sohnes berichtet so verstanden dass Dano der Ersatz für den Sohn sein sollte. Ich glaube der hiess auch Alex, daher wurde der entführte Barry in Alex umbenannt und "umgemodelt".
Das Motiv für den Ersatzsohn und zumindest ein Erklärungsversuch warum die beiden Mädchen eine Woche am Leben blieben ergibt sich auch daraus: Leo behält die beiden am Leben und holt sie in ihr Haus, weil Alex/Barry (Dano) verschwunden ist (entführt von Jackman), also sind die Mädchen vorübergehend quasi die Ersatzkinder für das Ersatzkind. Am Anfang waren sie in der Grube unter dem Auto eingesperrt (wo Jackmans Tochter ihre Trillerpfeife verliert), aber als Alex nicht mehr da ist holt Leo sie ins Haus. Dort kann Howards Tochter nach ein paar Tagen fliehen, und Jackmans Tochter soll getötet werden nachdem Jackman aufgekreuzt ist, die Leo also begriffen hat dass man sie nun ausfindig machen kann. Spurenbeseitigung halt.
Ich fand den Film immer noch sehr stark. Spannend, unbequem, furchterregend, böse, dagegen ist Fincher ja der reinste Sonnenschein. Erst wenn sich der grausige Spuk ein paar Stunden gelegt hat (und man versucht, hier die Fragen zu beantworten) fällt auf dass die eigentliche Geschichte etwas an den Haaren herbeigezogen ist und der vollendete Film vielleicht doch nicht ganz so clever-böse wie z.B. eben Se7en und nicht ganz so "reif" wie z.B. eben Zodiac. Für mich trotzdem klare 9 Punkte (und direkt im Rausch der Sichtung gestern auch 10) weil Villeneuve mich zweieinhalb Stunden lang so effekt- und eindrucksvoll um den Finger wickelt bzw. ins Sofa drückt. Und Gyllenhaal als Polizist (Rolle und Darstellung) sind grossartig mit einfachsten Mitteln.
Dann hab ich vor ein paar Tagen auch noch Sicario wiedergesehen und der ist genau so gut. Gegenüber dem sehr offensiven visuellen und dramaturgischen "Spuk" von Prisoners vermutlich der reifere und komplexere, mindestens aber der subtilere Film. Durch die Erzählperspektive von Blunt, die am Ende als ausgenutzte und betrogene Verliererin dasteht die nichts erreichen konnte, sowie den enormen Spannungsaufbau durch Kamera und Sound (Jóhanssens intensive "Horrormusik") ist auch Sicario böse und gewissermassen verstörend, kommt dabei aber viel hintergründiger und schleichender daher. Den besseren Film zwischen den beiden zu bestimmen ist für mich schwierig, weil sie in ihrer unmittelbaren und anhaltenden Wirkung so unterschiedlich sind. Auf jeden Fall habe ich jetzt Lust, Villeneuves frühere Filme aufzuarbeiten, sein Blödrenner 149 hingegen reizt mich nach wie vor nicht wirklich zu einer Zweitsichtung, ich glaube das war gar nicht mein Ding, wobei ich mich kaum mehr erinnern kann.