vodkamartini hat geschrieben: 26. Dezember 2021 09:57
Branaghs Ansatz ist sicherlich gewöhnungsbedürftig, aber die xte, angestaubte Christie-Adaptiuon zu drehen wäre nun wirklich mehr als redundant.
Es hätte ja aber noch eine andere Möglichkeit gegeben: die alte Christie-Geschichte gar nicht erst zum x-ten Mal adaptieren. Ich weiß: In Hollywood ist das nur eine theoretische Möglichkeit …

Rian Johnson hat ja bei "Knives Out" auch keine alte Christie-Story verfilmt, sondern einfach selbst eine alte Christie-Story geschrieben. Qualitativ kann man jetzt wie immer über alles streiten, aber letzteres ist mir der sympathischere und interessantere Ansatz.
vodkamartini hat geschrieben: 26. Dezember 2021 09:57
Branagh hat es geschafft den Film zugleich altmodisch und modern wirken zu lassen, was hier den besonderen Reiz ausmacht. Muss man nicht mögen, kann man aber.
Bin ich ganz bei dir, aber auch hier wieder: Natürlich kann man einen altmodischen Christie-Krimi so verfilmen, dass er modern auf ein heutiges Publikum wirkt. Aber warum dann nicht gleich hinsetzen und selbst einen modernen Krimi schreiben? Dann vermeidet er a) die Vergleiche zu früheren Verfilmungen (vor allem der 1974er von Lumet, die ich sehr mag) und b) die Vergleiche zu dem, was Agatha Christie da eins geschrieben hat. Ich finde nämlich: Kenneth Branagh hat überhaupt nicht die Essenz von Christie verstanden, er filmt sogar komplett dran vorbei. Christie schrieb kühl, mit subtilem Humor, pointiert. Viele ihrer Krimis haben eine leicht süffisante Note, die Poirot-Krimis sind vergleichsweise gemütlich. Knobel-Geschichten eben. Aber Branaghs Film ist ernst, schwerfällig, drückt auf die Tränendrüse, ist visuell opulent inszeniert (von den beschissen billigen Effekten mal abgesehen). Es mag einem besser gefallen, aber es ist kaum noch Agatha Christie und es ist fast gar nicht mehr "Mord im Orient-Express".
Natürlich kann man das dann Neuinterpretation nennen, aber ich frage mich immer: Wenn ich Christie nicht verfilmen will, warum verfilme ich dann Christie?
Ich will aber niemandem seinen Spaß an Branaghs Remake und seinem kommenden zweiten Remake nehmen. Ich würde mir nur wünschen, Branagh würde seinen eigenen Stil dafür nutzen, eigene Geschichten zu erzählen, statt andere Stoffe zugunsten seiner Erzählweise zu kannibalisieren.
Ein letztes Wort: In "Knives Out" konnte Johnson auf moderne Probleme in den USA eingehen, er zeigt den Rassismus der Trump-Ära, bringt moderne Assoziationen (etwa, wenn er das Musical "Hamilton" auf perfide Weise zitiert). Das ist in seinen Grundzügen typisch Agatha Christie. Die hat in "Tod auf dem Nil" auch vom Kolonialismus in Afrika erzählt, von der zerrütteten europäischen Kultur im Nachwehen des Ersten Weltkriegs etc. Branagh wird uns in seinem 2022er Film sicher ein Angebot machen, wie man diese damaligen Inhalte von Christie auf unsere heutige Zeit beziehen kann. Mich würde aber eher interessieren, was Branagh selbst zum Zustand der Welt 2022 sagen möchte – und nicht, was er glaubt, was Agatha Christie uns heute hätte sagen wollen.