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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Nur die Sonne war Zeuge
„Er hat eine rege Phantasie“, sagt Millionärssöhnchen Philippe Greenleaf an einer Stelle des Films „Nur die Sonne war Zeuge“ über seinen Begleiter Tom Ripley. Ein kurzer Satz, nicht mehr als fünf Worte, und doch reicht das aus, um diesen Tom Ripley und sein Wesen zu beschreiben – und um anzukündigen, was Philippe zum Verhängnis wird. Ripley ist eigentlich eine Figur der Literaturgeschichte. 1955 tauchte er im ersten von insgesamt fünf Romanen auf, welche die Kriminalautorin Patricia Highsmith über ihn, den jungen, mörderischen Identitätsdieb aus den Staaten, schrieb. Genau dieses erste Buch, „Der talentierte Mr. Ripley“, diente für den französischen Regisseur René Clément als Vorlage, als er 1960 seine Adaption drehte und dabei einem der größten Stars des europäischen Kinos zum Ruhm verhalf: Alain Delon.
Delon spielt jenen Tom Ripley, der im Auftrag von Senior Greenleaf nach Italien geschickt wurde, um Sohnemann zu einer Rückkehr in die USA zu überreden. Doch Tom genießt das römische Lotterleben an der Seite des verwöhnten Playboys und dessen Geliebter, der sinnlichen Brünetten Marge. Doch eines Tages wird Tom erwischt, als er sich heimlich vor dem Spiegel mit Philippes Klamotten einkleidet. Bei einer gemeinsamen Bootsfahrt offenbart sich Philippes brutale Art gegenüber seinen Liebsten – und Tom zeigt seine wahren Absichten. Beim Kartenspiel theoretisieren die beiden Männer darüber, ob Tom mit einem Mord an Philippe durchkäme und ob er so dessen Vermögen vereinnahmen könne. Philippe lacht während der Unterhaltung viel, doch Tom ist es ernst. Todernst.
Schon bevor ein gesprochenes Wort im Film ertönt, erweist sich Clément als Filmemacher mit geistreicher visueller Sprache. Die Namen der Schauspieler erscheinen handschriftlich auf dem Bildschirm. Handschriften erzeugen ein falsches Gefühl von Identität, wie sich später zeigt als Ripley in einer beängstigenden Szene mit berechnender Präzision die Signatur von Greenleaf bis zum letzten Grad Perfektionismus studiert und einübt. Ehe der Film beginnt, werden die restlichen Namen vor römischen Postkarten eingeblendet. Postkarten, im Jahr 1960 noch mehr als im 21. Jahrhundert ein Beleg für luxuriöse Fernreisen, symbolisieren den Neid und die Besessenheit, die Ripley zu seinen entsetzlichen Gewalttaten verleiten. Anders als im Roman versteht der Film die Geschehnisse unter gleißendem Sonnenlicht als Metapher für den Versuch eines jeden, sich in bestehenden Gesellschaftshierarchien über Besitzgüter einzuordnen.
Dieses gleißende Sonnenlicht an den Postkarten-Landschaften lässt „Nur die Sonne war Zeuge“ wie einen Urlaubsfilm aussehen. Der Originaltitel heißt ganz schlicht bloß „Plein soleil“, „Volle Sonne“ also, gedreht wurde neben Rom auch in Neapel und auf Ischia. Die Farbregie ist regelrecht sensationell: Leuchtende, bunte Farben und ein exzellentes Gespür für sommerliche Atmosphäre lassen das italienische Lokalkolorit besser aufkommen als in vielen Reisebroschüren. Der Filmpublizist Georg Seeßlen schrieb dazu: „Cléments Film ist sicher der erste Thriller, der die Gestaltung der Farbkamera bewusst als Mittel der Suspense-Erzeugung benutzt hat“ – und in der Tat ist es die unnormal idyllische, friedliche Zurschaustellung der Dolce Vita, welche den Schrecken der Geschichte überbetont. Dazu kommt die leichtfüßige, träumerische Musik des legendären Komponisten Nino Rota, die am Prädikat „Sommerfilm“ oberflächlich keinen Zweifel lässt. Auch sie kontrastiert mustergültig die düstere, psychologisch morbide Spannung der Geschichte, und Clément findet gemeinsam mit seinem Kameramann Henri Decaë die richtige visuelle Sprache für dieses ungewöhnliche Mischverhältnis: Landschaftspanoramen wechseln sich beständig und konsequent mit Nahaufnahmen der Darsteller ab, sorgen so für ein Höchstmaß an Konzentration.
Jene Darsteller sind es, die aus „Nur die Sonne war Zeuge“ ein unvergessliches cineastisches Erlebnis machen, allen voran Alain Delon. In den auslaufenden 1950ern hatte er im französischen Genre-Kino erste Erfolge verbuchen können, doch seine überragende Performance als Tom Ripley ließ ihn zu einem der bedeutendsten Schauspieler in der Geschichte seiner Nation werden. Sogar Patricia Highsmith selbst bezeichnete ihn als die Idealbesetzung für ihre Romanfigur. Der eiskalte Engel unter den europäischen Schauspielern fügt sich mit seinen hellblauen Augen und seinem attraktiven Äußeren perfekt in die Mise en Scène des Films ein: Sein hübsches Gesicht gepaart mit seiner höflichen, freundlichen Ausstrahlung lassen seine Taten umso grausamer wirken und jeder Moment, in dem Delon seinen Blicken eine unheimliche Aura mitgibt, lässt die Leinwand in Flammen stehen. Als er erstmals die Fassade fallen lässt, wird er zur ambivalenten Gestalt, zu einem kriminellen Bollwerk an der sonst hier so friedlichen Küste Italiens.
Seine Co-Stars spielen ebenso stark: Maurice Ronet ist als Philippe Greenleaf zu jeder Zeit als eingebildeter, verwöhnter Macho überzeugend, und die Chanson-Sängerin Marie Laforêt verleiht ihrer Marge eben die sorgende Unschuld, die einen Verrat durch Ripley so glaubhaft werden lässt. Dennoch gehört der Film vollkommen Delon, dessen ausgereiftes, einvernehmendes Charisma jenen Balanceakt gelingen lässt, der im Hinblick auf die literarische Vorlage so essentiell ist: Trotz seiner schrecklichen Taten und trotz seiner geheimnisvollen, verdorbenen und unnahbaren Charakterisierung ist Tom Ripley die zentrale Identifikationsperson für das Publikum, er ist als Sympathieträger konzeptioniert. Zwei Drittel der Geschichte handeln von seinem doppelbödigen, höchst riskanten Spiel als Betrüger, Mörder und Identitätsdieb. „Nur die Sonne war Zeuge“ ist kein Kriminalfilm über die Suche nach einem Täter, sondern macht die Zuschauenden zu Komplizen. Jedes weitere Hindernis, jeder mögliche Fehler wird zur streng getakteten Suspense-Sequenz ausgeweitet – ohne jede Effekthascherei. Die Kamera bleibt ruhig, dicht und hat es nicht nötig, die Tragweiten der verschiedenen Szenen überbetonen zu müssen.
Der meisterhafte Klassiker ist deshalb so schaurig, weil er den Weg der moralischen Uneindeutigkeit verfolgt. Der Ermordete ist ein Unsympath, aber mit verständlichen Motiven. Der Mordende ist ein Sympath, doch seine Beweggründe bleiben im Dunkeln. Zu diesem Zweck entfernte Clément auch eine psychologische Komponente der Romanvorlage, in der Ripleys Homosexualität und sein Interesse an Greenleaf verdeutlicht werden. Im Film bleibt es rätselhaft: Ist Tom nur ein habgieriger Mittelständler, der seine große Chance nutzt? Will er Rache an Philippe üben, für all dessen ignorante Auftritte ihm gegenüber? Oder ist es bloß eine allzu menschliche Neigung, dass wir während der Fütterungszeit lieber die Schlange anstelle der Maus sind?
Bis heute ist „Nur die Sonne war Zeuge“ ein Referenzwerk des Thriller-Genres, und ein Film, der seine Klasse und Qualität nicht mehr zu beweisen braucht. Während Clément in Italien drehte, schufen in seiner französischen Heimat Filmemacher wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard die Epoche der „Nouvelle Vague“, in deren Verlauf Filmemacher alter Tage heftig in die Kritik gerieten, so auch Clément. Dabei war er mit seiner Highsmith-Verfilmung auf der Höhe der Zeit und einem anderen Filmschaffenden außerhalb Frankreichs viel nähergekommen: Ebenfalls 1960 veröffentlichte schließlich der britische Alfred Hitchcock seinen „Psycho“. Auch dieser Film schuf Sympathien für einen Mörder, erklärte in der letzten Szene aber zumindest dessen Motive. Auch dieser Film sollte zum Klassiker und Meisterwerk des Genres werden.
Die von Clément gewählte Schlussszene für „Nur die Sonne war Zeuge“ stieß bei Patricia Highsmith höchstpersönlich auf Kritik. Während ihr Tom Ripley am Ende des Romans mit all seinen Taten ungeschoren davon kommt, hat sein Leinwand-Pedant in Form von Alain Delon nicht so viel Glück. Dem Film allerdings hier einen moralisierenden Ausgang vorzuwerfen, wie Highsmith es tat, greift zu kurz: Die zufälligen Umstände, die Ripleys Taten offenlegen, lassen seinen bestechend poetisch fotografierten Abgang umso tragischer wirken – und erhöhen ein letztes perfides Mal die Sympathien für den Mörder, bei dessen Taten nur wir Zuschauer die Zeugen waren. Und die Sonne natürlich.
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