Re: Jahresrückblick 2022

46
vodkamartini hat geschrieben: 10. Januar 2023 20:12 Ich denke, dass du so viele miese Filme dieses Jahr gesehen hast, liegt an einem gewissen beruflichen Zwang. ;)
Ich sag mal so: Ich könnte sicherlich auch den ein oder anderen Film mal an die Kollegen abgeben, aber ich habe dann oft für mich den Anspruch, auch alles halbwegs Relevante mitzunehmen und dieses Jahr ist mir das mal wirklich gelungen. Schauen wir mal, wie es 2023 wird. Gleichzeitig bin ich in meinen Bewertungen in den Jahren 2021 und 2022 etwas kompromissloser geworden, wie man vor allem in der Sparte der 1-3/10er nachlesen kann. Wenn du mich langweilst oder mir ein sau dummes Skript unterjubeln willst, dann wirst du abgewatscht. Ich habe vor einiger Zeit manchmal noch Konzessionen gemacht, also bei großen Blockbustern mich dann trotzdem noch zu mindestens 4/10 durchgerungen (einfach des technisch hohen Niveaus dieser Filme wegen), aber das würde ich jetzt nicht mehr machen. Wenn es scheiße ist, ist es scheiße. Da hilft mir das tollste Produktionsniveau der Welt dann auch nicht weiter, im Gegenteil: Es ist sogar schlimmer, wenn man so viel Geld und Mittel und Wege und handwerklich begabte Leute versammelt, und dann kommt so ein Müll wie "Jurassic World 3" oder all das andere dabei raus, dass ich im ersten Teil des Jahresrückblicks genannt habe. Letztes Jahr fing das an, als ich "Last Night in Soho", NTTD und den hundsmiserablen "Shang-Chi and the Very Long Title" ähnlich vernichtend eingestuft habe, und ich mache das ab jetzt zwar nicht mit Absicht, aber Hollywood liefert für solche Verrisse einfach 'tolle' Vorlagen.
vodkamartini hat geschrieben: 10. Januar 2023 20:12 Die Arthouse-Schlachtplatte hat ein paar tole Bilder und ein paar krasse Kampfszenen, aber auch einen recht faden Protagonisten. Dazu kommt das Bemühen "echte" Wikingerituale zu zeigen, was aber eher trashig, denn authentisch daher kommt.
Erstmal: Cool, Vodka, so viel Zustimmung – und das dann ausgerechnet u.a. bei "The 355" und "The Batman", bei denen ich gedacht hätte, dass mir wenn überhaupt eher widersprochen wird. Gerade "The 355" ist so ein Film, bei dem ich die Welle der Abneigung, die er abbekommt, gar nicht nachvollziehen kann. Klar ist das Teil weder innovativ noch in irgendeiner Disziplin herausragend, aber seit wann dürfen Actionfilme denn nicht mehr einfach nur Actionfilme sein? Ich bin da auf meine Kosten gekommen. Ein paar sympathische Schauspielerinnen, große Knarren, hübsche Set-Pieces und ein ungewöhnlich schmissiger dritter Akt, manchmal darf das einfach schon langen. Bei "The Batman" fand ich die Welle der Lobpreisungen dann eher überzogen. Reeves hat da einen guten Film gemacht, auch einen visuell bestechenden, und einige Szenen haben "Atem anhalt"-Potenzial (die Autojagd, das Spiel mit der Bombe auf der Beerdigung, das Wasser-Finale etc.), aber die Handlung mäandert manchmal ziellos umher und ausgerechnet ist Batman nun der eine Superheld, mit dem schon einige herausragende Dinge angestellt wurden, da muss man dann auch ein bisschen die Relationen sehen.

Zu unserem einzigen größeren Dissenz: Ich kann deine Sichtweise verstehen, fand "The Northman" aber sogar überraschend wenig Arthouse-lastig. Klar, schräg und eigentümlich ist er schon, aber da der Fokus sehr auf der simplen Geschichte ("Hamlet") und der deftigen Gewaltdarstellung legt, halte ich den eigentlich für ziemlich zugänglich – erst recht im Vergleich zum Vorwerk vom Eggers (insbesondere "The Lighthouse"). Das Endresultat fand ich sehr atmosphärisch und immersiv, die "Rituale" haben mich auch gar nicht gestört. Findest du das wirklich trashig? Ich kann verstehen, wenn einen das befremdet – aber trashig? :) Für mich war das ein richtig gut inszenierter Splatter-Film, nur das hier eben Wikinger die Blutsuppe angerichtet haben und nicht wie sonst irgendein Serienmörder. Und dieses überhöhte Finale im Vulkan … ach doch, das war schon gut.
AnatolGogol hat geschrieben: 11. Januar 2023 07:27 Die gleiche Anzahl an Punkten für den zweiten Downton Abbey-Kinoausflug und Bays intellektuell defizitären Actioner - das hätte ich nicht erwartet.
Ja, ich wusste, als ich das so hingestellt habe, dass ich dir das Herz breche. :mrgreen: Ich bin der letzte Bay-Verfechter auf der Welt, so fühle ich mich jedenfalls manchmal. Seinen "The Rock" liebe ich ja und auch noch andere Filme von ihm machen mir viel Freude, der Mann ist auf seiner Höhe ein bemerkenswerter Stilist. Da könnt ihr mich auch gerne für auslachen, ich erfreue mich an einigem von dem, was er so veranstaltet hat. Sobald dann Roboter-Aliens auftauchen, wird es halt super doof. Und sein Netflix-Film war auch ganz große Scheiße, absolut. Aber "Ambulance" fand ich wirklich okay. Die Geschichte ist strunz dämlich, geb ich zu, und diese Dialoge haben durchaus die Fähigkeiten, einen mehr zu schockieren als mancher Horrorfilm. Alles keine Frage. Aber die Action war teilweise super. Diese Drohnen-Kamerafahrten waren nochmal eine visuelle Neuerung und teilweise sah das aus, als habe man einen Kameramann per Jumpsuit durch die Häuserschluchten gleiten lassen. Mit sowas kriegt man mich. Ich hatte da meinen Spaß, verstehe aber, wenn man mir da mit Unverständnis begegnet (zumal ich in Teil 4 noch einen Film und eine Bewertung in petto habe, bei der ebenfalls viel Kopfschütteln vorprogrammiert ist). Ich versteh meinen Geschmack ja selbst manchmal nicht.

Der zweite "Downton Abbey"-Film war schon ganz gut, aber das Kapitel in Frankreich empfand ich als sehr zäh und kitschig – seltsamerweise, denn sonst ist "Downton Abbey" sehr gut darin, Glamour statt Kitsch und emotional statt sentimental zu sein. Aber da hat sich Fellowes für mich echt vergriffen, diese sonnendurchfluteten Aufnahmen, diese merkwürdig "hingestellten" Szenen, die immer wie von einer Theaterbühne weg adaptiert wirkten … Da knirschte es gewaltig und ich hatte anders als beim ersten Kinofilm hier tatsächlich das Gefühl, dass der Plot einer Serienfolge künstlich zum Leinwand-Ausflug gestreckt wurde. Das Ende war fraglos emotional, aber auch hier hätte ich gedacht, dass ich mehr abgeholt und mitgenommen werde, so ganz zünden konnte es leider nicht.
vodkamartini hat geschrieben: 11. Januar 2023 07:34 Gesternn waren ja die Globes. Dort hat Flop Spielberg Megahit-Cameron und Cruise geschlagen. :) Kann ich noch nicht mitreden.
Ich schon – und obwohl ich den Film schon im Dezember gesehen habe, werde ich ihn in diesem Thread aussparen (da ja eigentlich ein 2023er) und mich nochmal ausführlich zu ihm äußern, wenn er dann erscheint. Aber mal kurz vorweg: Für mich ist das ein Film, der das Potenzial hat, in der Spielberg-Top-5 zu landen und ein Film, den ich ihm so nicht zugetraut hätte. Echte Kino-"Magie", und er war immer einer der größten Leinwand-Magier, aber dieses Projekt ist so persönlich, so unverkennbar aus dem Bauch und Herzen heraus entstanden, ich konnte da gar nicht anders, als mehrfach ein paar Tränen der Rührung zu vergießen. Und zudem erzählt Mr. Playmountain nicht nur von sich, sondern auch von den Mitteln des Bewegtbilds, von seiner Faszination, von seinen Gefahren. Ganz großes Kino!
https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/

Let the sheep out, kid.

Re: Jahresrückblick 2022

47
So, machen wir mal fertig, bevor ich schon fast den Jahresrückblick 2023 anfangen kann. Wie angekündigt: Jenseits der 7,5/10 gab es 2022 echt nicht vieles, aber das was da war, damit hatte ich wahrlich viel Freude und in meinem Kalender stand heute drin, dass die Freude größer wird, wenn man sie teilt. Von daher sind mir die Hände gebunden und ich muss euch noch über meine persönlichen Highlights des Jahres aufklären – wie letztes Jahr vergebe ich dabei dreimal die Höchstnote, denn so kann ich ganz besonders viel Freude teilen. Zwei 10/10er liefen dabei übrigens noch zusätzlich außer Konkurrenz, denn wie seit 2019 jedes Jahr habe ich auch 2022 wieder "Apocalypse Now" im Kino gesehen, außerdem durfte ich im Dezember "African Queen" für mich entdecken. Ein sagenhaft guter Film. Jetzt aber zu den echten Hits aus dem vergangenen Jahr:

DC League of Super-Pets
– Ja, ist der Hille denn verrückt geworden?, werdet ihr jetzt alle sagen, aber mir ist das wurscht: "DC League of Super-Pets", ein Animationsfilm über die Haustiere von Superman, Batman und Co., war für mich der beste Superheldenfilm des Jahres. Eine liebenswerte Geschichte mit vielseitigen Gags trifft auf eine Attitüde, die mal wirklich "Comic" schreit: Dieser Film muss nicht in Albernheiten flüchten, David Finchers Lebenswerk imitieren oder ins Multiversum driften, um zu unterhalten. Er erzählt einfach eine süße Geschichte über Zusammenhalt, Mut und Heldentum. 8 / 10

Enola Holmes 2
– Nicht alle Netflix-Filme sind Schrott: "Enola Holmes" hatte mir 2020 ganz gut gefallen, auch wenn die Balance aus (Kinder-)Krimi, Sherlock-Stil, "Fleabag" für Teens und Coming-of-Age nicht immer aufging. Teil 2 ist eine Steigerung in jeder Hinsicht. Millie Bobby Brown ist wie immer sensationell, die Action teils grandios gefilmt und inszeniert, der Plot ehrlich spannend und zeitgeistig, ohne penetrant zu werden. Zudem gibt es wunderbare Musik von Daniel Pemberton auf die Lauscher und ein Ende, nachdem man sich direkt Teil 3 herbeisehnt. The game is on. 8 / 10

Scream V
– Ich mag die "Scream"-Reihe, sogar den vergurkten dritten Teil und hatte Bammel, ob das ohne Wes Craven auf dem Regiestuhl eine Zukunft hat. Teil 5 hat mich vom Gegenteil überzeugt. Abgesehen von wenigen etwas überstürzten Entwicklungen im Schlussakt ist das ein kompetenter und oft richtig angenehm gruseliger Horrorfilm, der die Meta-Ansätze der Reihe stark zurückfährt, dafür aber ein neues Figurenensemble einführt, auf dessen Weiterführung ich mich freue. Verglichen mit vielen Legacy-Sequels der letzten Jahre ("Star Wars", "Terminator" etc.) wohl mein persönliches Highlight. 8 / 10

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush
– Wahre Geschichte um eine türkisch-deutsche Bremer Putzfrau, die vor dem Obersten Gerichtshof versucht, die Freilassung ihres Sohnes zu erzielen, der zu Unrecht in Guantanamo sitzt. Ganz starkes Figurenporträt, das maßgeblich von Meltem Kaptan in der Titelrolle und Alexander Scheer als ihr Anwalt getragen wird, sodass hier politisches Drama und Buddy-Movie aufeinanderprallen. Sehr unterhaltsam und es darf sogar viel gelacht werden, dennoch zünden die emotionalen Momente gleichermaßen. Gutes Kino aus Deutschland, hätte mehr Aufmerksamkeit verdient. 8 / 10

Der schlimmste Mensch der Welt
– Sehr hübsch! Norwegische Komödie, in welcher der sogenannten "Generation Beziehungsunfähig" auf den Zahn gefühlt wird. In herrlich kreativen Montagen wird eine junge Frau (Renate Reinsve, wirkt wie die unbekannte Schwester von Alicia Vikander und Lily James) im Dating-Alltag gezeigt, die gerne mal unsympathische und unverständliche Entscheidungen trifft, die sie sich selbst nicht erklären kann. Ein im Kern melancholischer Film, der so warmherzig wie kaltschnäuzig darin ist, blitzschnell zwischen süßlicher Romantik und deprimierender Neutralität umzuschalten. 8 / 10

See How They Run
– Ein Meta-Krimi, in dem in den 50er Jahren inmitten eines Agatha-Christie-Theater-Ensembles ein Mord passiert, und zwei großartig gegensätzliche Ermittler (Sam Rockwell und Saoirse Ronan) sich des Falles annehmen. Zugegeben: Man kann diese teils wirklich bekloppt charakterisierten Figuren schnell als Knallchargen abtun, letztlich ist "See How They Run" aber ein irre witziger Film, der ein großes Herz für alles Schräge hat. Darin erinnert er positiv an "Ladykillers" oder gar "Grand Budapest Hotel". Plus: Eine so derbe Tortenschlacht wie hier gab es zuvor noch nie! 8 / 10

Everything Everywhere All At Once
– Martial-Arts quer durch das Multiversum: "Everything Everywhere All At Once" schäumt über vor Einfällen. Michelle Yeoh kloppt sich durch verschiedene Parallelwelten, hat dort mal Hot-Dog-Finger, ein drittes (Kuller-)Auge oder wird zu einem stummen Kieselstein. Sensationelle Action-Choreographien gibt es zuhauf zu bestaunen, kinematografisch werden sie zudem atemberaubend aufgelöst. Oft mag das chaotisch werden, doch zugleich wird hier sehr gefühlvoll und klug-philosophisch von der bedingungslosen Liebe einer Mutter über alle Grenzen hinaus erzählt. 8,5 / 10

The Outfit – Verbrechen nach Maß
– Ein exzellentes Kammerspiel, von dem Hitchcock begeistert gewesen wäre, in dem ein Schneider (so gut wie nie zuvor: Mark Rylance) aus den 50er Jahren in kriminelle Aktivitäten verwickelt wird, als nachts zwei Mafiosi vor seiner Tür stehen. Dialoge zum Niederknien sorgen für eine stetig wachsende Antizipation und es gab im Vergleich nur wenige so effektiv und minutiös platzierte Spannungsmomente in 2022. Leider ging "The Outfit" an den Kinokassen völlig unter. Sollte er sich im Streaming-Markt rumsprechen, dürfte er in wenigen Jahren schon als Kultfilm gelten. 9 / 10

Triangle of Sadness
– Bei keinem anderen Film wurde im Kino so sehr gelacht. "Triangle of Sadness" war 2022 der große Festival-Abräumer, eine zum Totlachen lustige Satire auf Wohlstandsverwahrlosung und die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Zudem werden nicht nur die sozialen, sondern auch die körperlichen Grenzen des "Kulturwesen" Mensch ausgereizt: Genüsslich schießt die Komödie meilenweit über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus, was in eine 15-minütige Kotzszene gipfelt. Manchmal ist Filmkunst, wenn man nicht mehr hinsehen kann. 9 / 10

Top Gun: Maverick
– Eine "Top Gun"-Fortsetzung wirkte so überflüssig wie ein drittes Nasenloch. Doch das Ergebnis ist schlicht fantastisch unterhaltsam: Die Actionszenen in der Luft haben eine spürbare Plastizität, die allein schon filmisch kraftvoll genug ist, um das Kinoticket zu rechtfertigen. Die maximal effiziente Story ist da noch gar nicht einberechnet. Gut möglich, dass man sich an diesen Film und seine phänomenalen Bilder in wenigen Jahren so erinnern wird, wie heute an den originalen "Star Wars". "Top Gun" war damals eine populäre Zeiterscheinung, "Maverick" wird als Klassiker für sich überdauern. 9,5 / 10

Nope
– Beworben wurde "Nope" als Horrorfilm, doch Jordan Peele hat stattdessen eine bildgewaltige Verbeugung vor dem Kino als Kunstform inszeniert. Ein paar Farmer gehen mit einer Kamera auf die Jagd nach einer geheimnisvollen Wolke. Das Ergebnis ist sowohl eine Liebeserklärung als auch eine Kritik an der manipulativen Macht des Bewegtbildes. "Unheimliche Begegnung der dritten Art" und noch mehr "Der weiße Hai" sind klar die Referenzpunkte, und diese großen Vorbilder erreicht Peele spätestens mit dem genialen Blutrausch in der Mitte des Films. Nix "Nope", sondern "Yep". 10 / 10

Avatar: The Way of Water
– Der zweite "Avatar" ist ein brillantes Erlebnis, weniger ein Film als ein Event, das einen durchschüttelt und nicht mehr loslässt. In nie zuvor dagewesenen Bildern sitzt man über drei Stunden da und staunt sich nach Pandora, in diese Unterwasserwelten. Eine jenseitige, mitreißende Geschichte um Familie, Vaterschaft, Rache, Kolonisierung und unser Verhältnis zu Tieren und Natur, mit so perfekt getakteten Actionsequenzen, dass die Kinnlade wie von selbst herunterfällt. James Cameron hat sich selbst übertroffen und dem durch Corona-geschwächten Kino sein blaues Wunder beschert. 10 / 10

The Innocents
– Genialer Psycho-Horror aus Norwegen! Vier Kinder aus einem Sozialbau nahe Oslo, keines älter als 9 Jahre, entdecken: Sie haben telekinetische Kräfte, können Dinge per Gedankenkraft bewegen oder gar Erwachsene manipulieren. Was mit harmlosen Experimenten anfängt, wird zu einem grausamen Höllentrip, der einem richtig in die Magengrube schlägt. Besonders im letzten Drittel wird mit einfachsten Mitteln eine wahrlich verstörende Intensität erreicht. Nach dieser an die Substanz gehenden Tour de Force wird niemand mehr Grönemeyers "Kinder an die Macht" unbeschwert mitsingen. 10 / 10
https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/

Let the sheep out, kid.