Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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Ich sitze größtenteils mit euch in einem Boot. Da ihr den Vergleich zu "1917" und "Dunkirk" (den ich in meiner Kritik auch bemühte) schon angestellt habt, hierzu aber noch eine Ergänzung: Bei direkter Gegenüberstellung denke ich schon, dass "Im Westen nichts Neues" diese beiden Filme darin übertrifft, das visuelle Erfahren des Krieges in den Mittelpunkt zu stellen. Die Anfangsszene etwa, mit der Uniform, die an den nächsten Soldaten weiter "vererbt" wird, fand ich in ihrer Schlichtheit ziemlich klasse und dachte: "Ui, das könnte ja echt ein kleiner Knaller werden." Das wurde es nicht, trotzdem kommt hier das Grauen des Krieges für mich mehr und intensiver rüber als in den Vergleichsfilmen, die ich eher als Heldenreisen und -verklärungen empfand. Vodka hat in seinem Text recht, dass der historische Plot um Herrn Brühl von diesem Ansatz der subjektiven Soldatenperspektive eher ablenkt und davon wegführt, grundsätzlich mochte ich den Ansatz aber, die "Ursprünge" der Dolchstoßlegende miteinzuweben.

Bis auf diese Anmerkungen bin ich aber bei euch, gerade als großer, großer Bewunderer der Romanvorlage und des Originalfilms von 1930. Den habe ich erst vor Kurzem angesichts des neuen Teils nochmal angeschaut, und bin immer wieder von den Socken, wie unfassbar gut der gealtert ist, wie modern die Inszenierung angesichts ihres Jahrgangs in weiten Teilen noch wirkt, wie erschreckend dessen Wirkung noch ist. Das Buch habe ich in der Schulzeit gelesen und es gehört zu diesen Büchern, die einen prägenden, lange nachhallenden Eindruck hinterlassen haben. Leider scheint der Berger das Buch nie gelesen zu haben, zumindest gemocht haben kann er es wohl nicht. Anders sind seine schockierend gravierenden Abweichungen, die teils die Essenz von Remarque gänzlich ad absurdum führen, nicht zu erklären. Den Heimaturlaub auszusparen habe ich direkt als Dummheit empfunden (zumal kein entsprechendes dramaturgisches Äquivalent folgt) und der finale Akt ist so sinnfrei herbeigeschustert – eine Schande!

Der Roman hat eines der großartigsten Enden, das ich je gelesen habe – und ohne dieses Ende ergibt der Titel keinen Sinn mehr (was schon ein starkes Stück ist!). Mit dem Stoff Unerfahrene können sich hinterher zurecht fragen, was "Im Westen nichts Neues" eigentlich heißen soll. Übrigens. Trotz meiner Bewunderung für den Roman finde ich, dass dieses geniale Ende in der 1930er-Verfilmung sogar noch genialer ist. Die Schmetterlingsszene ist so ein ganz besonderer Magic Moment, das Finale der Netflix-Version dafür typisch Hollywood.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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Keine Frage, den Ursprung der Dolchstoßlegende zu thematisieren ist ein sehr spannender Ansatz, das hätte ich sogar noch gern ausführlicher gehabt. Denn man hat ja bewusst die liberalen Politiker vorgeschickt, um die Mär vom noch möglichen Sieg aufrecht erhalten zu können, zumal es ja keine Kriegshandlungen auf deutschem Boden gegeben hatte, so dass die Bevölkerung in weiten Teilen tatsächlich von der Niederlage und der Kapitulation überrascht war. Aber, ich will das nicht in "Im Westen nicht Neues", denn da lenkt es von der Essenz - das Grauen des Kriegs, das Apokalyptische, das Entmenschlichte - in unangenehmer Weise ab.

Ich gebe dir völlig recht mit dem Auftakt, das mit der Uniform ist ein Geniestreich, leider der Einzige. Danach wird es gleich sehr nervig und ärgerlich mit der 5 Minuten-Abfrühstückung der Rekrutierung und Ausbildung, das ist ein schlechter Witz. Zur Krönung kommen dann, ich kann es nicht freundlicher sagen, die dämlichen atonalen Dröhnklänge, die Lieschen Müller das Grauen vorankündigen sollen. Ich habe diese aufgesetzten Verfremdungselemente immer schon zum Haareraufen empfunden, das ist für mich kapriziöser Unfug. Das geht ins Peinliche.

Kleiner Nachtrag zu Nolan und Mendes.
Bin ja - wie bekannt - kein Freund beider Filme, die es a) überhaupt nicht schaffen, das Grauen des Krieges "erlebbar" zu machen (Nolan noch weniger) und die b) vor allem als Zeugnis ihrer Zeit - als Brexit-Filme, die das britische Selbstbewusstsein stärken sollen und vor allem wollen - , aber gar nicht als historische Filme taugen. Zudem bedienen sie penetrant die Manierismen und Eitelkeiten ihrer Macher (Opern-Regisseur Mendes und Zeitfetischist Nolan). Aber wenn man den teils himmelschreienden Unfug liest, den Mendes damals abgesondert hat, dann kann man nur resigniert den Kopf schütteln.
Alle drei Filme sind von Meisterwerken so weit entfernt, wie Rambo 2 von einer besinnlichen Kriegsreflexion.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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vodkamartini hat geschrieben: 1. November 2022 10:36 Keine Frage, den Ursprung der Dolchstoßlegende zu thematisieren ist ein sehr spannender Ansatz, das hätte ich sogar noch gern ausführlicher gehabt. Denn man hat ja bewusst die liberalen Politiker vorgeschickt, um die Mär vom noch möglichen Sieg aufrecht erhalten zu können, zumal es ja keine Kriegshandlungen auf deutschem Boden gegeben hatte, so dass die Bevölkerung in weiten Teilen tatsächlich von der Niederlage und der Kapitulation überrascht war. Aber, ich will das nicht in "Im Westen nicht Neues", denn da lenkt es von der Essenz - das Grauen des Kriegs, das Apokalyptische, das Entmenschlichte - in unangenehmer Weise ab.
In diesem "Im Westen nichts Neues" lenkt es in der Tat ab, aber in einer vernünftigen "Im Westen nichts Neues"-Verfilmung, die mit dem Buch mehr als den Titel gemein hat, hätte das wunderbar funktionieren können. Gerade weil der Heimaturlaub, das beste und wichtigste Kapitel der Vorlage, genau das aufzeigt, was du schreibst: In weiten Teilen der Bevölkerung herrschte eine ganz andere Vorstellung vom Verlauf und Erfolg des Krieges. Berger hat aus meiner Sicht gar nicht verstanden, worum es bei Remarque (und den ersten zwei Verfilmungen) geht: Das ist keine (Anti-)Kriegsgeschichte, sondern vor allem auch ein Porträt der verlorenen Generation, die selbst, wenn sie den Krieg überlebten, nie mehr in das Land zurückkehren konnten, aus dem sie einst losgezogen waren. Remarque hat ja zum Beispiel später in "Drei Kameraden" viele dieser Themen und Gedankengänge noch weiter vertieft. Seine Romane nehmen gewissermaßen schon all das vorweg, was uns später das US-Kino über Vietnamheimkehrer zu erzählen hatte (siehe "Taxi Driver" oder noch mehr "Die durch die Hölle gehen"). Von all dem ist bei Berger keine Spur.

Ich finde das mehr als ärgerlich, weil dieser Stoff vernünftig aufgearbeitet mehr sein kann und sollte als eine Aneinanderreihung von (zugegeben: tadellos inszenierten) Grausamkeiten an der Front. Wie gesagt: Den Aspekt, den Krieg als Hölle auf Erden zu zeigen, aus subjektiver Sicht einzelner Leidtragender, da ist "Im Westen nichts Neues" definitiv viel gelungener als "Dunkirk" (der eigentlich nur dürftige Suspense-Momente aneinanderreiht) und "1917" (der als Marathon-Odyssee den Untertitel "Schöner sterben" tragen sollte). Aber unzufrieden bin ich dennoch sehr und teile auch eure negativen Wertungen. Künstlerische Freiheit schön und gut, aber einen der besten Romane seiner Ära und seines Genres zu verwenden, um dann so beispiellos ohne dramaturgische Eleganz an allen Inhalten des Buchs vorbeizufilmen, ist schon ein starkes Stück.
vodkamartini hat geschrieben: 1. November 2022 10:36 Bin ja - wie bekannt - kein Freund beider Filme, die es a) überhaupt nicht schaffen, das Grauen des Krieges "erlebbar" zu machen (Nolan noch weniger) und die b) vor allem als Zeugnis ihrer Zeit - als Brexit-Filme, die das britische Selbstbewusstsein stärken sollen und vor allem wollen - , aber gar nicht als historische Filme taugen. Zudem bedienen sie penetrant die Manierismen und Eitelkeiten ihrer Macher (Opern-Regisseur Mendes und Zeitfetischist Nolan).
Exakt, wir sprachen ja schon mal drüber. "Dunkirk" und "1917" sind Auswüchse eines erkennbaren Post-Brexit-Kinos, in dem die Filme vor allem dazu dienen, den geschundenen nationalistischen Seelen der Briten den Bauch zu pinseln. Dass sie zudem als historisches Kino unbrauchbar sind, ist sicherlich ärgerlich. Gleichzeitig finde ich sie aber – und das teilen sie mit "Im Westen nichts Neues" – schon von ihrem Ansatz her nicht so interessant. Wenn ich sehen will, dass Krieg grausam und scheiße ist, brauche ich aktuell (leider) nur die Tagesschau zu gucken. Dafür muss ich nicht zwei Stunden oder sogar noch länger im Kino sitzen. Es braucht schon etwas mehr als das.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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Casino Hille hat geschrieben: 1. November 2022 12:28 Wie gesagt: Den Aspekt, den Krieg als Hölle auf Erden zu zeigen, aus subjektiver Sicht einzelner Leidtragender, da ist "Im Westen nichts Neues" definitiv viel gelungener als "Dunkirk" (der eigentlich nur dürftige Suspense-Momente aneinanderreiht) und "1917" (der als Marathon-Odyssee den Untertitel "Schöner sterben" tragen sollte).
Möglicherweise relativ, aber absolut versagt da der (nicht) neue Westen genauso, weil er mir die Figuren nicht nahebringt und dadurch das effektvolle Piffpaffpuff an der Front weitgehend emotionslos an mir vorübergegangen ist. Leid an sich ist ja zwar tragisch, aber nicht zwingend auch emotional ergreifend. Leid gibt es jede Minute, ja jede Sekunde überall auf der Welt. (Wirklich) Nahe geht einem in der Regel aber nur das Leid, das jemandem widerfährt, zu dem man eine wie auch immer geartete Beziehung hat (und wenn sie noch so imaginär ist, z.B. wenn ein Bonddarsteller stirbt, den man persönlich ja gar nicht kannte, aber zu dem man trotzdem über dessen Kunst eine Beziehung aufbauen konnte). Und da versagt Bergers Film epochal, weil die Figuren keinerlei emotionale Angriffsfläche bieten, an der sich der Zuschauer dranhängen könnte.
Casino Hille hat geschrieben: 1. November 2022 12:28Wenn ich sehen will, dass Krieg grausam und scheiße ist, brauche ich aktuell (leider) nur die Tagesschau zu gucken. Dafür muss ich nicht zwei Stunden oder sogar noch länger im Kino sitzen. Es braucht schon etwas mehr als das.
Absolut und leider bietet der Film ja darüber hinaus überhaupt keinen interessanten Ansatz.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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AnatolGogol hat geschrieben: 1. November 2022 12:39
Casino Hille hat geschrieben: 1. November 2022 12:28 Wie gesagt: Den Aspekt, den Krieg als Hölle auf Erden zu zeigen, aus subjektiver Sicht einzelner Leidtragender, da ist "Im Westen nichts Neues" definitiv viel gelungener als "Dunkirk" (der eigentlich nur dürftige Suspense-Momente aneinanderreiht) und "1917" (der als Marathon-Odyssee den Untertitel "Schöner sterben" tragen sollte).
Möglicherweise relativ, aber absolut versagt da der (nicht) neue Westen genauso, weil er mir die Figuren nicht nahebringt und dadurch das effektvolle Piffpaffpuff an der Front weitgehend emotionslos an mir vorübergegangen ist. Leid an sich ist ja zwar tragisch, aber nicht zwingend auch emotional ergreifend.
Das stimmt, da widerspreche ich nicht. Dennoch finde ich: Im Vergleich zu "Dunkirk" und "1917" wirkt Krieg in "Im Westen nichts Neues" tatsächlich brutal, heftig, willkürlich etc. Der verklärende Blick der anderen beiden Filme weicht hier einer tatsächlichen Aneinanderreihung von Grausamkeiten, die ich (vielleicht auch des aktuellen Weltgeschehens wegen) als unangenehm und aufwühlend empfunden habe. Dass die Figuren einem dennoch nicht nahegehen ist richtig und dramaturgisch macht man aus diesem Ansatz quasi nichts. Ich rede rein von der visuellen Inszenierung und der Deftigkeit dessen, was es zu sehen gibt. Und klar, es ist immer noch kein Lars von Trier Film, aber es ist eben auch nicht besagtes "Schöner sterben" aus den Vergleichsfilmen.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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Also das sehe ich ähnlich. Bei Nolan ist da wenig Schockierendes oder gar Drastisches zu sehen, auf Anhieb fällt mir keine einzige Szene ein. Er ist vor allem an dem Zeitaspekt - seinem Fetisch - der ganzen Chose interessiert.

Mendes geht da ein bißchen weiter, aber ist auch deutlich zahmer als Spielberg oder Berger.

Was aber definitiv stimmt ist, dass bei Bergers Inszenierung so gar keine Empathie aufkommen will. Ich habe zu keinem der deutschen Soldaten eine emotionale Bindung aufbauen können, die waren mit alle irgendwie egal. Und das ist dann schon eine ganz schwache Leistung eines Regisseurs.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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Es gibt meines Erachtens wenig Regisseure, die sich in ihrer Handschrift derart charakterarm und somit auch irgendwo belanglos manifestieren wie Sam Mendes. So verkommt sein 1917 in meinen Augen zur reinen Stilübung, die Mittel heiligen hier ganz klar den Zweck. Roger Deakins' virtuose Kameraarbeit - insofern man auf seinen Stil steht - außen vor gelassen, bleibt ein ziemlich inhaltsleerer Film zurück.

Da empfinde ich Nolans Zugang schon als deutlich ambitionierter, zumal es ihm meiner Auffassung nach vor allem um die Pausen zwischen den Schlachten geht - das nervenaufreibende Warten. Leider verfängt auch er sich wie so oft in sein eigenes prätentiöses Konzept, und auch hier stehen technische und narrative Gimmicks im Vordergrund - das dümmlich-pathetische Ende hinterließ mich äußerst wütend.

Spielberg gelingt mit den ersten 40 Minuten seines Saving Private Ryan ein zugleich oppulenter, wie auch äußerst erschütternder Einblick in das willkürliche Kriegschaos, alles was darauf folgt ist kitschiges Verdummungskino der gefälligsten Art und Weise.
Dennoch - selten wurde Krieg meiner Ansicht nach in seiner schockierenden Brutalität so drastisch auf der Leinwand dargestellt - SPR hat diesbezüglich einen Standard gesetzt, an dem sich viele weiteren Regisseure, darunter Mel Gibson mit seinem fragwürdigen Hacksaw Ridge gemessen haben, bzw. nachwievor messen, siehe Edward Berger, der mit seiner Neuverfilmung von Im Westen Nichts Neues leider geradezu exemplarisch vor Augen führt, woran sogenanntes Anti-Kriegs-Kino so oft scheitert.
Die Faszination für den Gewaltakt als spannungserzeugendes Mittel kompromittiert in meinen Augen einfach von vorne herein jede pazifistische Absicht. So attrestiere ich Gewaltdarstellungen ein hohes Potential Eigendynamiken zu entwickeln, die jedes Narrativ jenseits der gezeigten Gewalt zu überschatten drohen. Das ist auch SPR großes Problem, doch ist Spielberg ganz offensichtlich kein Gegner des Krieges - im Gegenteil, er zelebriert ihn geradezu und spielt in seinem pathetischen Heldenepos wenigstens mit offenen Karten. Berger tut das nicht - sein Film strotzt geradezu von audiovisuellen Ästhetisierungen, die ich nicht nur als willkürlich gesetzt und sinnentleert wahrgenommen habe, sondern geradezu als manipulatorisch und übergriffig - von der Ideenarmut ganz zu schweigen, das meiste haben wir bei besagten Regisseuren schon besser gesehen. Die Verhandlungsszenen wirkten auf mich wie ein versöhnlicher Versuch dem ganzen einen dispositivkritischen Anstrich zu verpassen, die Strukturen hinter dem Krieg anzugreifen. Nun, das wäre doch der "bessere" Zugang für einen selbsterklärten Antikriegsfilm, etwa wie Dalton Trumbos Johnny zieht in den Krieg, der die menschenverachtende Absurdität des Machtapparates hinter den Kampfhandlungen offenlegt.
Vielleicht störe ich mich an der Terminologie "Anti-Kriegsfilm" - denn so etwas gibt es meines Erachtens nur, wenn sich ein Film im Umgang mit der Thematik auch formal zum Pazifismus bekennt. Und genau das tut Berger eben nicht. Ganz im Gegenteil, sogar der Score kommt mit seinem brachialen Dröhnen effekthascherisch um die Ecke und unterstützt die bombastische Szenerie, wenn er nicht in Kitsch umschwankt. Hollywood-/Netflix-Dramaturgie par Excellence, wie wir sie kennen und manchmal lieben. Das Draufhalten auf die Gewalt hat neben berechtigter Fragen bezüglich der Verharmlosung (denn keine Darstellung kann realer Gewalt auch nur ansatzweise gerecht werden) immer den Beigeschmack des Spektakels. Nicht, dass das problematisch wäre - ich liebe den karthatischen Effekt filmischer Gewalt - doch würde ich es begrüßen, wenn sich mehr Filmemacher*innen aktiv zu ihrer eigenen, völlig nachvollziehbaren Schaulust bekennen würden, anstattt zu behaupten, sie wollten lediglich ein abschreckendes Bild des Krieges vermitteln. Das ginge auch ohne drastische Gewaltdarstellungen, würde aber auch deutlich weniger Menschen abholen.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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craigistheman hat geschrieben: 2. November 2022 18:53 Spielberg gelingt mit den ersten 40 Minuten seines Saving Private Ryan ein zugleich oppulenter, wie auch äußerst erschütternder Einblick in das willkürliche Kriegschaos,
Es ist ihm sogar noch deutlich weniger gelungen: ohne die Friedhofsszene sind es nur etwas über 20 Minuten. :D
craigistheman hat geschrieben: 2. November 2022 18:53Dennoch - selten wurde Krieg meiner Ansicht nach in seiner schockierenden Brutalität so drastisch auf der Leinwand dargestellt - SPR hat diesbezüglich einen Standard gesetzt, an dem sich viele weiteren Regisseure, darunter Mel Gibson mit seinem fragwürdigen Hacksaw Ridge gemessen haben,
Der Anfang von SPR mag gut sein, aber wenn man den ganzen jeweiligen Film als Maßstab nimmt ist Hacksaw Ridge in meinen Augen haushoch überlegen. Ich würde der Omaha-Beach-Szene noch nicht mal den Vorzug vor den exzellent inszenierten Schlachtszenen von Gibson geben. Nix gegen Spielberg, der Mann ist ein toller Handwerker und in Hochform zu absoluten Meisterwerken fähig (leider ist das letzte auch schon > 30 Jahre her). Aber Gibson ist als Regisseur für mich einfach ein anderes Kaliber, das ist ein echter Künstler mit Vision, der diese kompromisslos umsetzt.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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"Hacksaw Ridge" halte ich jetzt auch nochmal für den erneut deutlich brutaleren Abriss als es die anderen genannten Filme sind. Das war für mich weniger ein ernstzunehmender Kriegsfilm als mehr eine künstlerische Melange aus einer Körperwelten-Ausstellung, der Zugabe eines Rammstein-Konzerts und der filmtheoretischen Essay-Überlegung, wie viele Deformierungen des menschlichen Körpers im Kugelhagel sich visuell darstellen lassen. Dieses Exploitations-Kino mit visuellem Wumms hat zugegeben seinen Reiz und ich verstehe jeden, der das packt. Ist dann aber für mich auch nicht weit entfernt von dem Ego-Shooter-Erlebnis eines neuen "Call of Duty"-Spiels in hochauflösender Grafik, zugegeben natürlich bei Gibson ohne den interaktiven Charakter.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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Bei Hacksaw Ridge stehe ich etwas dazwischen, ich pack mal ein etwas längeres Fazit hier rein, geht schneller:

Zwar inszeniert Gibson die Erstürmung des Hochplateaus handwerklich perfekt als ultrabrutale Schlachtplatte aus zerfetzten Körpern, klaffenden Wunden und bestialischer Raserei. Dennoch stellt sich nicht dieselbe abstoßende Wirkung ein, die Steven Spielberg zu Beginn von „Saving Private Ryan" erzielte. Gibson berauscht sich zunehmend an tödlichen Einschüssen, verheerenden Einschlägen und sich krümmenden Körpern. Vor allem den Tod durch Flammenwerfer zeigt er immer wieder in Zeitlupensequenzen unterlegt mit elegischer Musik. Diese Ästhetisierung der Gewalt bremst immer wieder den ebenfalls vorhandenen Realismus in Form einer willkürlichen, schockierenden Brutalität aus. Gibson wirkt hier unentschlossen zwischen Faszination und Abscheu, zwischen Heroisierung und Sinnlosigkeit.
Der totale Realismus wäre ein spannender Kontrast zum Rest des Films gewesen und hätte schön die thematische Widersprüchlichkeit visualisieren können. Doss Kindheit und Jugend liefert ein stark idealisiertes Bild der scheinbar unbeschwerten, reinen 30er und 40er Jahre. Kräftige Farben und eine beinahe klinische Sauberkeit stehen für die metaphorische Anlage des Films. Selbiges gilt für das Ausbildungslager, das direkt dem heimeligen Kino der 1950er Jahre entsprungen scheint.

Dennoch ist „Hacksaw Ridge" ein packender, leidenschaftlicher Film geworden, der Gibsons Regie-Qualitäten eindrucksvoll herausstellt. Er ist ein Spiegelbild seiner kontroversen Persönlichkeit und schon allein deswegen interessant. Dazu hat er mit Doss Vater Tom und seinem Ausbildungssergeant Howell zwei starke und komplexe Charaktere geschaffen, die von Hugo Weaving und Vince Vaughn geradezu mitreißend verkörpert werden. Andrew Garfield hat es dagegen deutlich schwerer, seiner eindimensionalen Erlöserrolle irgendwelche Facetten abzuringen, wirkt aber zumindest nie abgehoben oder entrückt.

Der Vulkan Gibson brodelt also immer noch in bewährter Manier. Das Subtile ist seine Sache nicht, aber darin liegt auch seine Stärke. Zumal Wucht hier nicht mit Flachheit zu verwechseln ist. „Hacksaw Ridge" ist keine simple Heldeneloge, keine simple Patriotismusstudie und keine tumbe Bibellektion. Dafür ist Gibson zu schlau. Er macht Überwältigungskino gepaart mit religiösem Eifer und das mit überwältigender Wirkung. Das ist nicht zwingend befriedigend, das kann sogar irritieren, aber es wird auch niemals langweilig, oder gar belanglos. Welcher Regisseur kann sich das schon auf die Fahnen schreiben.
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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Casino Hille hat geschrieben: 2. November 2022 22:13 "Hacksaw Ridge" halte ich jetzt auch nochmal für den erneut deutlich brutaleren Abriss als es die anderen genannten Filme sind. Das war für mich weniger ein ernstzunehmender Kriegsfilm als mehr eine künstlerische Melange aus einer Körperwelten-Ausstellung, der Zugabe eines Rammstein-Konzerts und der filmtheoretischen Essay-Überlegung, wie viele Deformierungen des menschlichen Körpers im Kugelhagel sich visuell darstellen lassen. Dieses Exploitations-Kino mit visuellem Wumms hat zugegeben seinen Reiz und ich verstehe jeden, der das packt. Ist dann aber für mich auch nicht weit entfernt von dem Ego-Shooter-Erlebnis eines neuen "Call of Duty"-Spiels in hochauflösender Grafik, zugegeben natürlich bei Gibson ohne den interaktiven Charakter.
Sehr schön geschrieben, vor allem das mit der Zugabe beim Rammstein-Konzert. :D Muss aber gestehen, dass ich das dann doch deutlich anders sehe. Gerade weil sich Gibson in der ersten Filmhälfte sehr viel Zeit für die Einführung seiner Hauptfigur und ihrer Gewissensnöte lässt ist die zweite, brachiale Hälfte für mich dann eben auch kein Exploitationkino, sondern die logische Fortführung oder wenn man so will die praktische Konsequenz der theoretischen Ansätze der ersten Hälfte. Das mit der Exploitation wird Gibson ja immer wieder vorgeworfen, nicht zuletzt in seinem sehr umstrittenen Passion OTC. Für mich greift das aber viel zu kurz, weil man damit alles andere ausblendet, was Gibson vor bzw. um die Gewalt in seinen Film packt und vermitteln will. So erschliesst sich denke ich die wirkliche Wucht zB eines POTC erst bzw. nur dadurch, wenn man Anteil am Schicksal des Menschen Jesus nehmen kann (weswegen Gibson auch allerlei Elemente integriert hat, die genau darauf abzielen, also den Menschen dem Zuschauer näher zu bringen, am ergreifendsten wie ich finde bei der Begegnung mit seiner Mutter auf dem Kreuzweg und den Flashback in ihre gemeinsame Erinnerung). Wenn das beim Zuschauer nicht ankommt, dann bleibt am Ende natürlich wirklich kaum mehr übrig als ein Gewaltporno (was ich dir jetzt aber natürlich nicht unterstellen möchte, aber es gibt ja nicht wenige, die den Film hauptsächlich bzw nur wegen seiner Gewaltexzesse abfeiern).
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Re: Das Kriegsfilm-Genre: Empfehlungen, Geheimtipps und Reviews

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Casino Hille hat geschrieben: 2. November 2022 22:13 "Hacksaw Ridge" halte ich jetzt auch nochmal für den erneut deutlich brutaleren Abriss als es die anderen genannten Filme sind. Das war für mich weniger ein ernstzunehmender Kriegsfilm als mehr eine künstlerische Melange aus einer Körperwelten-Ausstellung, der Zugabe eines Rammstein-Konzerts...
Dann werde ich wohl kugelsichere Weste und Schutzschild einpacken, wenn ich die Jungs 2023 in Brüssel sehe...

Ja Hacksaw Ridge ist ab der Ankunft auf dem Felsen ein ziemlich (un-)ansehnliches Gemetzel, je nachdem worauf man aus ist. Mel Gibson rührt ja bekanntlich gerne im Bluttopf (hast du inzwischen Die Passion Christi gesehen, wäre auf deine Eindrücke gespannt - da gibt's einiges auseinanderzunehmen), und so wusste ich auch hinetwa, was da auf mich zukommt. Trotzdem hat sich das Bild des halbierten Soldaten, der am Strand „ausläuft”, aus Spielbergs Film fest in mein Kriegsfilm-Gedächtnis eingebrannt, ganz wie der Kerl, der seinen abgetrennten Arm aufhebt und weiterläuft. Merkwürdigerweise ließen mich die dargestellten Gräuel in HR total kalt, obwohl ich eher dazu neige mit Filmfiguren zu empathieren...
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Werner - mit Compurverschluss!

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Casino Hille hat geschrieben: 9. August 2023 15:00
AnatolGogol hat geschrieben: 9. August 2023 13:20 Hab am WE mal wieder Gesprengte Ketten geschaut
Und da sagt er nix. Definitiv ein Thema, über das wir uns unterhalten müssen. Habe ihn auch erst vor drei Wochen mal wieder gesehen, bzw. genossen.
Dann will ich den Ball mal ins rollen bringen mit ein paar wirren Anmerkung zum Klassiker Gesprengte Ketten aka The great Escape:

Ich durfte den Film das erste Mal Ende der 80er schauen - dürfen ist hier das Schlüsselwort, da der Film Sonntags-Abends im ZDF um 20.15 Uhr lief und der damals schulpflichtige Anatol normalerweise spätestens um 9 in die Koje hätte müssen. Dann war der Film aber so gut - und ganz offensichtlich auch für meine Eltern - das ich mich irgendwie über die gesamte Laufzeit bis kurz vor 23 Uhr gemogelt habe. :D Und sowas prägt natürlich! Aber auch abgesehen von dieser netten Erinnerung aus jungen Jahren halte ich den Film in allerhöchsten Ehren - und eigentlich sind die im Laufe der Jahre immer höher geworden. Warum?

Der wichtigste Punkt sind vermutlich die Stars und generell die Schauspieler. Nicht nur ist das Ensemble gleichermaßen namhaft wie befähigt, irgendwie schafft der Film das Unmögliche und gibt eigentlich allen Darstellern genügend Raum, um zu glänzen. Da weiss man auch gar nicht, bei wem man anfangen soll.

Klar, denkt man an Gesprengte Ketten, denkt man gleich auch an den King of Cool (bzw. den Cooler King) Steve McQueen. Es wird ja immer viel von Charisma bei Schauspielern gesprochen, aber was McQueen hier abzieht ist wohl die diesbezügliche Meisterklasse. Und wenn er dann auch noch mit dem Moped durch Bayerns Pampa rast, wer kann ihm da noch die Schau stehlen?

Gut, stehlen kann sie ihm zwar niemand, aber zumindest ebenbürtig sind dann aber am Ende doch eine ganze Reihe - und das ist das kaum zu glaubende. Charlie Bronson gibt als klaustrophobischer Tunnelkönig die vermutlich nuancierteste (und mutmaßlich beste?) Darstellung seiner Karriere. Und da wir von Charisma sprachen: Charlie liefert wie immer und ist unfassbar präsent in seinen Szenen.

Dann haben wir den von mir sehr geschätzten James "Rockford" Garner, der zwar vielleicht nicht so cool wie McQueen ist, dafür aber dermaßen charmant aufspielt, dass er einfach heraussticht. Wunderbar seine Szenen mit seinem deutschen "Kumpel" Werner, ebenfalls grossartig gespielt von Robert Graf (übrigens Dominiks Vater).

Und wenn wir bei Garner sind, dann muss natürlich auch Donald Pleasence Erwähnung finden, der als feingeistiger Fälscher das ruhige Zentrum des Films darstellt. Pures Gold sind dann die gemeinsamen Szenen mit Garner und Pleasence, die ihre Freundschaft ganz wunderbar verkörpern und damit dem Film viel emotionalen Gehalt geben.

Und das ist wirklich nur die Spitze des brillanten Ensembles, in welchem Dick Attenborough, Jimmy Coburn, James Donald, Gordon „Cowley“ Jackson, Angus Lennie, David McCallum und Hannes Messemer ebenfalls aufzutrumpfen wissen. Kurz: das ist darstellerische Weltklasse, die man in dieser geballten Form nur ganz, ganz selten zu sehen bekommt.

Dazu die von Haus aus packende Geschichte, die von John Sturges extrem kurzweillig (trotz fast 3 Stunden Laufzeit) in Szene gesetzt ist. Die Dramaturgie sitz punktgenau und durch die Dreiteilung des Films (Vorbereitung, Ausbruch, Flucht) kann der Film nach den eher auf Spannung und Humor setzenden ersten beiden Dritteln gegen Ende dann auch Actiontechnisch nochmal richtig Gas geben (vor allem dank McQueens Motorradkünsten). Unbedingt erwähnt werden muss auch Elmer Bernsteins meisterlicher Soundtrack, der hier in meinen Augen (bzw. Ohren) seine Karrierebestleistung abliefert.

Kurz: Gesprengte Ketten ist ein Film ohne Schwächen und wenn mich eines von der Höchstbewertung abhält, dann eigentlich nur die Tatsache, dass es eben dann doch nochmal etwas bessere Filme gibt.



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