So ein bisschen war Jean-Pierre Melville der spirituelle Vater der Nouvelle Vague. Nachdem er als elsässischer Jude im Zweiten Weltkrieg Teil der Résistance war, erarbeitete er sich 1947 seinen ersten eigenen Spielfilm ("Das Schweigen des Meeres") ohne finanzielle Unterstützung bestehender Studios. Er lieh sich das Geld für sein außergewöhnlich psychologisches Kammerspiel bei Freunden und brachte es unabhängig in die Kinos. Von anderen Filmschaffenden erntete er dadurch Geringschätzung. Die Außenseiter-Rolle stand ihm: Er selbst mochte das französische Kino seiner Zeit kaum, war eher vom amerikanischen Film inspiriert. Besonders die Regisseure William Wyler, Robert Wise, John Huston und Frank Capra hatten es ihm angetan. Er stellte damals eine Liste mit sechzig in seinen Augen großartigen Filmemachern aus den USA zusammen. Alle anderen hielt er für weniger wertig.
Man muss nicht lang suchen, um diese Einstellung in seinen Filmen zu entdecken. Der finnische Filmemacher Aki Kaurismäki, der selbst angibt, sich seine Inspirationen immer wieder von Melvilles Werken zu holen, fasste dessen Filmografie mal so zusammen, dass sich jeder seiner Filme in drei Akte teilen lasse: Der erste Akt handelt von Einsamkeit, der zweite Akt erzählt von Freundschaft und im dritten Akt kommt es zu einem Verrat. Eine scharfe Beobachtung, die auf gleich mehrere seiner Klassiker verblüffend genau zutrifft, doch es sind zwei modische Accessoires, die Melvilles Filme verbinden wie bei keinem anderen Regisseur: der Trenchcoat und der Hut.
Er selbst gab 1972 in einem Interview in der "Les cahiers de la Cinémathèque No 25" an, stets einen Hut zu tragen, obwohl "der Homo Gallicus damit vor 25 Jahren aufgehört" habe. Er glaubte, das Gestalten von Charakteren geschehe vor allem über ihre Kleidung. In beinahe jedem seiner Filme gibt es mindestens eine Szene, in der Figuren sich einkleiden, meist mit den Trenchcoats, die den US-amerikanischen Film noir prägten. Es ist Teil einer Fetischisierung, die für Melvilles Kino unerlässlich ist. Mit diesen Accessoires wollte er seine Figuren stilisieren, denn, so war er überzeugt: "Über stilisierte Figuren lacht niemand." Er lasse Charaktere sich so verhalten, wie er sich verhalte, denn so würden "aus Marionetten reale Menschen werden".
Die radikale Selbstbestimmung über den Film als Handwerk, den man in allen Ebenen, vom Skript bis zur Montage, beherrschen muss, ähnelte der der Anfang der 1960er aufkeimenden Nouvelle Vague. In Jean-Luc Godards "Außer Atem" hat Melville einen Gastauftritt. Doch während die Nouvelle Vague sich durch eine stilistische Unbekümmertheit kennzeichnete, erkannte man einen Melville sofort am prägnanten, kühlen und präzisen Stil des perfektionistischen Regisseurs. Sein Résistance-Drama "Armee im Schatten" ist dabei eben so deutlich und leicht erkennbar sein Werk, wie seine Gangsterfilme, darunter prägende Meisterwerke wie "Der eiskalte Engel" und "Vier im roten Kreis". Dennoch oder wohl eher aufgrund seines strengen Formalismus galt er der einflussreichen Kino-Zeitschrift Cahiers du cinéma lange als zu traditionell, die große Anerkennung erfuhr seine Filmografie erst spät. Davon bekam er nicht so viel mit: 1973 verstarb er im Alter von nur 55 Jahren an einem Schlaganfall.
Es ist etwas bittere Ironie, dass seine Filme, je näher er seinem eigenen Tod kam, immer pessimistischer und fatalistischer wurden. Ein Happy End assoziiert man mit Melville nicht. Nicht selten verarbeitete er in seinen Genrefilmen philosophische Thesen zum Determinismus. Das tragische Element seiner Geschichten wird stets durch den Zufall herbeigeführt, auf den er überdeutlich verweist. "Das bürgerliche Mysterium", wie es in Alfred Hitchcocks großen Kriminalfilmen (so etwa in "Der unsichtbare Dritte" oder "Die 39 Stufen") im Mittelpunkt steht, war für Melville nicht interessant. Im Zentrum seiner Arbeiten steht meist die Gegenüberstellung zwischen den Gesetzlosen auf der einen Seite und dem Schicksal auf der anderen Seite - herbeigeführt durch die Vertreter des Gesetzes, ob nun durch Polizisten oder Privatdetektive.
Um einen guten Film zu machen - so sagte er selbst - braucht es nur zwei Dinge:
"Erstens die Bearbeitung der Geschichte, die viel wichtiger ist als die Geschichte selbst. Heute könnte ich einen schlechten Kriminalroman nehmen und einen guten Film daraus machen. Wenn ich müsste, würde ich das machen, nur um mir zu beweisen, dass ich Recht habe. Zweitens muss man die Schauspieler animieren, gut zu spielen. Fälschlicherweise hängt das nicht davon ab, ob sie Stars sind. Man braucht gute Schauspieler mit einer guten äußeren Erscheinung, man muss sie lenken und ihnen eine Ethik vorschreiben. Wenigstens ihre Rolle sollte eine Ethik vertreten."
Und - möchte man hinzufügen - wenn sie noch einen Trenchcoat und einen Hut tragen, wäre das auch nicht verkehrt.
Trenchcoats & Hüte - Die Filme des Jean-Pierre Melville
1https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/
Let the sheep out, kid.
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