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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
X-Men United
Der mutierte Homo Superior kehrt zurück. Im Jahr 2000 hatte "X-Men" nicht nur das Genre des modernen Comicfilmes begründet, sondern auch eine feinsinnige und emotionale Geschichte über die Verfolgung von Außenseitern und dem Umgehen mit dem Anders sein erzählt. Die einst beschädigte Männerfreundschaft zwischen dem Charismatiker Charles Xavier, der weise versucht, seine Schützlinge auf den Weg der Toleranz und (Selbst-)Akzeptanz zu führen, stand dabei genau so im Vordergrund wie die Vergangenheit seines radikalen Gegenspielers Erik Lensherr, der auf die Ignoranz der Menschen mit der totalen Vernichtung antworten möchte. Nachdem gerade diese Motive durch 9/11 und die damit verbundene islamophobe Hetzkampagne in der zivilisierten westlichen Welt noch mehr an Bedeutung gewannen, als man vorher ahnen konnte, war ein Sequel unvermeidlich. Ein Segen für den Zuschauer, dass man dafür nicht nur die komplette Besetzungsriege des Vorgängers, sondern auch Regisseur Bryan Singer zurückgewinnen konnte. Genau wie beim Erstling des Franchises darf er zum zweiten Mal seine Fähigkeiten als Geschichtenerzähler unter Beweis stellen und entfesselt ein fantastisches Actiondrama mit noch viel mehr Tiefgang, aber auch deutlich mehr Schauwerten.
Während man vorher mit den von Patrick Stewart und Ian McKellen gespielten Pro- und Antagonisten eine klassische weltpolitische Konstellation, nämlich die einer unterdrückten und verfolgten Minderheit, in der verschiedene Lager zum einen den Ausgleich mit dem Gegner, zum anderen die Eskalation anstreben, vorfinden konnte, verschieben sich in "X-Men United" die Fronten. Der von Brian Cox angenehm fies gespielte General William Stryker verfolgt keine Ideologie, seine Ziele sind weitaus persönlicherer Natur und dürften vor allem für Nicht-Comicleser eine positive Überraschung bieten. Anstatt sich aber auf die pure Konstellation Gut gegen Böse zu verlassen, geht Singer einen ganzen Schritt weiter, in dem er eben diese Verhältnisse auflöst und seine Charaktere ambivalenter gestaltet. Neben der bereits in "X-Men" etablierten Clique rund um Famke Janssens Jean Grey, James Marsdens Cyclops und Halle Berrys Storm werden sie hier tatkräftig vom jungen Shawn Ashmore als cooler Iceman unterstützt, der mit seinen Fähigkeiten eine angemessene Verstärkung der Mutantencrew abgibt, aber durch seine Beziehung zu Anna Paquins Rogue, die, aufgrund ihrer Mutation, nie allzu persönlich werden kann und seinem Zerwürfnis mit seinen Eltern auch seine eigenen Dämonen mitbringt. Jackmans Logan hingegen ist weiterhin auf der Suche nach seinem wahren Ich und scheint eine Zeitlang seiner Antwort ganz nah, als er sich die Frage stellen muss, worauf es im Leben eigentlich wirklich ankommt. Ob man diese Themen für unnötige Psychologisierung hält oder nicht, muss man erkennen, dass eine solch thematische Vielfalt im Blockbuster-Geschäft eine Seltenheit darstellen. Und wenn es doch mal vordergrundig auftritt, dann gehen solche Aspekte meist direkt unter anderen Aspekten unter.
Doch den Film durch seine vielen Figuren zu sehr von der Geschichte entfernen zu lassen kann hier wohl kaum als Vorwurf gelten, denn sämtliche Charaktere werden immer vollständig in das Konstrukt mit eingesponnen. Selbstredend natürlich, dass trotzdem jeder Comiccharakter seine ganz persönliche Highlightszene bekommt, in der er sich beweisen darf. Das wirkt zwar hin und wieder etwas konstruiert, doch muss man den kreativen Köpfen gratulieren, dass ihnen das Kunststück gelingt, ungefähr 15 verschiedene Hauptfiguren unter einen Hut zu bekommen. Um den ohnehin schon sehr langen Film nicht unnötig Tempo verlieren zu lassen, inszeniert Singer in gut gewählten Abständen immer wieder neue Actionhöhepunkte, deren technische Brillanz nur noch von ihrer ungemein filmischen Gestaltung übertroffen wird. Statt sich auf puren Bombast zu verlassen, lässt die Regie die Action zu einer perfekten Symbiose aus Effekten, Design, Schnitt und absurden Kamerafahrten werden und begeistert dabei in ihrer Vielseitigkeit. Michael Kamens unfassbar akzentuierter Soundtrack tut dabei natürlich sein Übriges.
Jedoch können all diese wirklich tollen Momente nicht gegen den absoluten Triumph des Filmes ankommen: Die Eröffnungsszene im weißen Haus. Direkt nach dem elegant-futuristischen Intro begeistert "X-Men United" mit der vielleicht besten Eröffnungssequenz des modernen Kinofilmes. Schnell, geheimnisvoll, storytreibend und absolut beeindruckend umgesetzt. So würde man gerne immer in einen Film eingeführt werden. Leider kann man dieses Maß an Perfektion nicht die ganze Laufzeit über retten und so gerät leider der Showdown deutlich zu lang und dessen Länge wird durch immer mehr abstruse Höhepunkt merklich zu rechtfertigen versucht. Weniger wäre hier mehr gewesen und hätte womöglich auch eine deutlich packendere Wirkung erzielt.
Fazit: Auch in der Fortsetzung begeistern die X-Men als echte Charaktere mit Motivationen, Gefühlen und Idealen. Während die Wertevorstellungen einiger Personen immer mehr einzubrechen scheinen, müssen die anderen sich umso mehr an ihren Glauben (sinnbildlich dafür die biblischen Verweise durch Alan Cummings Figur) an einer besseren Welt festhalten. So erweist sich auch "X-Men United" erneut als Plädoyer für eine freiere Welt mit mehr Rechtschaffenheit, Akzeptanz und Gemeinschaftsempfinden für alle und als deutliche Botschaft gegen die Verstoßung anderer. Wichtige Werte, die aber nicht einfach nur platt vorgetragen, sondern subtil in ein Actioninferno eingewoben werden, dass sich sehen lassen kann und nur zum Ende hin ein wenig an Abwechslung vermissen lässt. Aus filmischer Sicht vorbildlich, von Seiten der Besetzung vielseitig und spannend gestaltet und insgesamt trotz kleiner Abschlusschwächen rundum überzeugend und - vor allem - aufrichtig in seiner Aussage. So sollte ein moderner Actionfilm aussehen! Bravo!
9/10
https://filmduelle.de/
https://letterboxd.com/casinohille/
Let the sheep out, kid.