danielcc hat geschrieben: 7. September 2020 14:30
Ich finde "fehlende emotionale Bindung" ist schon ein sehr valider Kritikpunkt - unter der Annahme, dass der Film das überhaupt erzielen wollte. Aber selbst wenn er es nicht erzielen wollte, ist es völlig legitim es zu kritisieren, wenn der Zuschauer das Gefühl hatte, das etwas fehlt um richtig mitzufiebern
Sicherlich. Nur muss man dann natürlich sagen: Dann hat man sich schlicht den falschen Film angeguckt. Es gibt Zuschauer, die brauchen eine emotionale Bindung zu den Charakteren, um einen Film genießen zu können. Und die sind dann bei "Tenet" eben an der falschen Adresse. Das kann man gerne eingestehen und dann eben für sich festhalten, dass man damit nichts oder nur wenig anfangen kann. Ich glaube es war GoldenProjectile, der weiter vorne schrieb, dass er mit den jüngeren Nolan-Filmen nicht so klar kommt, weil sie ihm zu verkopft sind. Ist doch prima, warum sollte man das nicht so sagen dürfen?
Aber wenn ich professionellen Filmkritiken drin steht, dass es Nolan hier nicht gelingt, eine emotionale Geschichte um die Figuren herum zu konstruieren, dann muss ich mit dem Kopf schütteln, denn dadurch erfahre ich rein gar nichts über den Film. Stattdessen lese ich eine Abwertung, die aus einem Schubladendenken erfolgt, bei dem der Autor eine Strichliste abhakt: "Gab es eine Backstory für den Protagonisten? Gab es einen emotionalen Anker? etc." Aber "Tenet" ist kein Strichlisten-Film und erzählt kein gewöhnliches Hollywood-Narrativ, "Tenet" hat nie den Anspruch, an solchen Punkten gemessen zu werden. Wer das dann dennoch tut, der beschäftigt sich nicht mit dem Film, sondern mit seiner eigenen Position zum Film als (Erzähl-)Medium. Von einer richtigen Kritik erwarte ich aber eine vernünftige (gerne auch subjektive) Auseinandersetzung mit dem, was auf der Leinwand passiert und nicht mit dem, was der Kritiker vielleicht stattdessen lieber auf der Leinwand gesehen hätte.
Der YouTuber Schmitt hat da im Kern ganz recht: Viele haben verlernt, Filme zu schauen und vor allem, wie man sich Filmen nähert – und gehen lieber von sich aus. Sein Kunst-Beispiel ist sehr anschaulich: Natürlich kann ich mich vor ein Gemälde von Pablo Picasso stellen und sagen "So sehen Gesichter in der Realität aber nicht aus" oder "Also ich würde Gesichter ja anders zeichnen". Aber dann schaut man nur sich selbst an und nicht das Gemälde. Bei einem Picasso-Gemälde kann man sich entscheiden, bei sich selbst zu bleiben oder zu überlegen: Warum hat Picasso das so gezeichnet? Was hat ihn dazu bewegt, Gesichter so darzustellen? Und die Antworten auf diese Fragen dürfen und SOLLEN persönlich und subjektiv sein. Aber jetzt sind es Antworten, die sich mit dem Bild beschäftigen. Kunst (ob das jetzt Bilder oder Unterhaltungsware wie Filme oder Musikalben sind) wird doch nicht gemacht, damit wir uns dann beim Sehen und Hören selbst suchen, sondern um auch mal das Andere und Fremde kennenzulernen.
Ich habe kein Problem damit, wenn jemand keinen Zugang zu "Tenet" findet und dann zugibt: "Ist einfach nicht meine Art Film." Alles prima, so unterschiedlich sind Geschmäcker. Ein Problem habe ich damit, wenn Rezeptionisten sich mit der Materie, die ihnen vorliegt, nicht auseinandersetzen und sie lieber anhand der eigenen Maßstäbe beurteilen, anstatt zuerst vom Film auszugehen.
Wenn nämlich immer nur die gleiche Strichliste hervorgeholt wird, und Filme nach der beurteilt werden, wird es schwierig für Filme, die zum Beispiel gar keine Emotionen haben (wollen). Oder für Filme, die vielleicht gar nicht erst eine richtige Handlung erzählen (etc.) – bei richtigem Arthouse-Kino (und davon ist "Tenet" ein großes Stückweit entfernt) oder im Experimentalfilm zeigen sich erst die breiten Möglichkeiten des Films als Medium, und die gehen weit über das altmodische "Von A nach B"-Geschichtenerzählen hinaus. Klar ist das nicht massentauglich – und bei "Tenet" bekommt man anhand vieler Reaktionen gut vorgeführt, warum eigentlich nicht. Weil die meisten Zuschauer ihre innere Strichliste haben, geprägt durch eine Vielzahl gesehener Filme, so gepolt, dass jetzt alle Filme so sein sollen wie diese inneren Vorstellungen. Wenn das ein Film dann mal nicht erfüllt, wird es ihm vorgehalten, statt die spannendere Frage zu stellen: Hat das vielleicht seinen Sinn? Gibt es vielleicht einen Grund, dass nicht alle Filme 100 prozentig gleich sind?