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von Casino Hille
'Q Branch' - MODERATOR
Die totale Erinnerung – Total Recall
Hollywood, das ist die Traumfabrik. Hier wird Fiktion mit kühlem Geiste hergestellt, mit kompetenten Händen produziert, mit Präzision erschaffen. Hollywood verkauft Filme, und Filme verkaufen Träume. Der Schlauberger sagt dazu „Eskapismus“ und was er eigentlich meint, ist die Flucht aus der realen Welt, aus der Wirklichkeit. Es ist kein Zufall, dass die häufigsten Berufswünsche im Leben vieler kleiner Jungen meist zwischen Cowboy und Astronaut tendieren, sind doch Western und Science-Fiction-Filme zwei der ältesten Genres des Kinos. Junge Erwachsene nutzen das Kino und seine Magie, um sich in andere Rollen hineinzuträumen. Zuerst erleben sie zwei Stunden eine spannende, abwechslungsreiche Geschichte auf der Leinwand – und daheim im Bett denken sie sich selbst in solche Geschichten hinein. Um genau das, um eine Prise Eskapismus, um eine Flucht aus der Langeweile und Gleichströmigkeit des Alltags, ist auch der Protagonist Douglas Quaid im Film „Die totale Erinnerung – Total Recall“ bemüht. Doch statt ins Kino zu gehen, wählt er den drastischeren Weg: Implantierte Erinnerungen.
Im Jahr 2084 kann der Bauarbeiter an nichts anderes denken, als einmal den kolonialisierten Mars zu besuchen. Er träumt sogar davon, mit einer attraktiven Brünetten auf der Marsoberfläche zu spazieren. Zum Glück kann ihm geholfen werden: Die Firma REKALL Inc. kann mit eingepflanzten künstlichen Erinnerungen „Urlaubspakete“ direkt ins Hirn einsetzen. Und schon die Szene, in der Arnold Schwarzenegger in der Rolle dieses Douglas Quaid sich von einem Fachmann von REKALL Inc. das Prozedere erklären lässt, gibt einen Vorgeschmack auf die brillante Satire, die der niederländische Regisseur Paul Verhoeven mit diesem Film im Sinn hat: Eine Dekonstruktion des 80er-Jahre-Actionkinos mit all seinen Klischees und Stereotypen. Da beginnt das Schmunzeln schon, als der REKALL-Mitarbeiter mit der einlullenden Art eines PKW-Verkäufers dem ahnungslosen Quaid erklärt, dass er für seine Mars-Erinnerung mehrere exotische Berufe wählen kann: Playboy, Spitzensportler, Industriemagnat oder Geheimagent. Natürlich wählt Arnie den Geheimagenten – immerhin ist dies die einzige fremde Rolle für ihn. Als Bodybuilding-Weltmeister war er in der Realität bereits Spitzensportler, Frauenheld und verdiente seine erste Million tatsächlich mit Immobilien.
Selbstverständlich geht bei Quaids Traumreise etwas schief. Sein Gedächtnis wurde schon einmal überschrieben. Und von diesem Moment an bricht sein ganzes Leben zusammen. Seine schöne, ihn verwöhnende Ehefrau attackiert ihn mit dem Küchenmesser, sein Arbeitskollege will ihn öffentlich exekutieren und in einer Videobotschaft spricht sein vergangenes Ich plötzlich zu ihm. Was folgt ist oberflächlich einer der vielen Filme, die Arnold Schwarzenegger schon vor dem Jahr 1990 drehte: Die Einmannarmee, die sich durch eine Vielzahl kreativer und brutaler Actionszenen arbeitet und häufiger das automatische Maschinengewehr nachlädt, als sich in Worten zu artikulieren. Doch „Total Recall“ geht einen Schritt weiter: Hinter dem reißerischen Spektakel steht eine hintersinnige Reflexion über das Gefüge aus Wirklichkeit (also dem, was wir Realität nennen) und Illusion (also dem, was eine Täuschung, umgangssprachlich „unecht“ ist). Kein Wunder: Das komplexe Projekt basiert auf einer Kurzgeschichte, Titel: „Erinnerungen en gros“, des legendären Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. Das Script der „Alien“-Autoren Ronald Shushett und Dan O’Bannon geisterte seit den späten 70ern durch die Traumfabrik, ursprünglich waren Schauspieler wie Dustin Hoffman und Richard Dreyfuss für die Hauptrolle vorgesehen. Als Schwarzenegger mit dem Projekt in Berührung kam und Verhoeven hinzu bat, wurde aus der düsteren Allegorie auf psychische Krankheiten ein ultrabrutales Blockbuster-Spektakel. Aber der tonale Wechsel war Kalkül, ist er doch genau das, wovon der Film erzählt: Vom Traum des Menschen, größer zu sein als er ist, aber auch von den kapitalistischen Herrschern, die jene Träume kommerzialisieren.
Passenderweise ist der Widersacher dieses Films ein kolonialistischer Machthaber, der den roten Planeten ausbeutet und selbst die Atemluft für die verschiedenen Mars-Distrikte kontrolliert. Und Quaid erfährt bald, dass er einst vor seiner Amnesie, vor dem falschen Traum, in das ihn der kapitalistische Schurke zwängte, ein Mitglied jener Rebellen war, die auf dem Mars mit Waffengewalt für die Freiheit der Bevölkerung gegen die raffgierige Ausbeutung der dortigen Ressourcen kämpft. Auf welche Seite sich Paul Verhoeven als Künstler und Erzähler stellt, ist unübersehbar. Doch wie er diese Geschichte erzählt, ist sein narratives Tennis, nämlich als ein Fest der Doppelbödigkeit. So wie Quaid nie sicher sein kann, ob seine Erlebnisse tatsächlich stattfinden oder nur der implantierte Traum von REKALL sind, so zieht auch Verhoeven dem Zuschauer regelmäßig den Boden unter den Füßen weg. Eine famose Szene verdeutlicht das Vexierspiel aus Erwartungshaltung und Erfüllung in simpelsten Bildern: Bei seiner Flucht rennt Quaid in eine Sicherheitsschleuse und ist nur noch durch eine Röntgenscheibe sichtbar, sodass nur sein Skelett und seine Waffe zu sehen sind. Als er von links und rechts umzingelt ist, springt er frontal durch die Scheibe, so als würde er aus dem Fernseher heraus in die reale Welt des Konsumenten springen. Er zerbricht metaphorisch und buchstäblich die vierte Wand.
Der Geniestreich des Paul Verhoeven ist die Herangehensweise an sein Material: „Total Recall“ ist kein düsterer, schwermütiger Film für Philosophen, sondern erfüllt in jeder Hinsicht das Verlangen des Publikums an einen Arnold-Schwarzenegger-Actioner. Mit dicken Kanonen, viel zu engen Outfits und einem dümmlichen Oneliner nach dem anderen befriedigt „Total Recall“ die Gelüste nach knalliger, naiver Unterhaltung. Verhoeven holte extra seinen Scriptdoctor Gary Goldman zum Projekt, um Schwarzeneggers Sprüche an seine Erfolge mit „Terminator“ oder „Conan, der Barbar“ erinnern zu lassen. Der selbst tritt so auf, wie man es von ihm kennt. Arnie spielt hier nicht anders als sonst, besser gesagt: Er schauspielert nicht im klassischen Sinne, sondern lässt sein Leinwand-Charisma für ihn wirken. Wenn er mit seiner Scheinfrau Lori, die von der damals noch unbekannten Sharon Stone mit düsterer sexueller Energie gespielt wird, kämpft oder dem von Michael Ironside verkörpten Richter, ein Handlanger Coohagens, dann ist Verhoevens Film das erwartete phantastische Schwarzenegger-Spektakel und in etwa so subtil wie eine Dampfwalze. Und in den Actionszenen zeigt der skandalumwitterte Filmemacher seinen Hang zur Explizität: Die Schusswechsel sind in ihrer ungeschönten Härte äußerst schonungslos, die Gewaltdarstellung in vielerlei Hinsicht fatalistisch.
Doch all das ist, wie könnte es anders sein, nur ein kapitalistischer Trick eines Profis aus der Traumfabrik Hollywoods, der mit diesen plumpen Mitteln einen Traum verkaufen will. Verhoeven selbst übernimmt die Position eines REKALL-Mitarbeiters, der seinem Publikum ermöglichen will, über Wirklichkeit und Illusion der Geschichte zu rätseln. Eine Auflösung bietet er nicht: Beide Realitäten haben bis zur letzten Sekunde Gültigkeit. Hierin entpuppt sich „Total Recall“ als im bestmöglichen Sinne postmoderner Film, dessen Eleganz und Tiefgründigkeit gerne übersehen wird. So sehr, dass Verhoevens Meisterwerk bei der Videotheken-Generation als „Ballerfilm“ in das kollektive Gedächtnis einging, dessen tiefere Absichten im Dunkeln blieben. Bis heute hält „Total Recall“ seinem Publikum den Spiegel vor – und wie so oft, wenn man in einen Spiegel blickt, weiß man nicht ganz genau, was man darin erkennt. Während Quaid in der finalen Szene zweifelt, ob das Erlebte echt oder ein Traum gewesen ist, entsteht im Hinterkopf des Rezipierenden die Frage, ob er gerade wirklich nur einen weiteren Actionkracher der Marke "Hirn aus" gesehen hat oder ob er beim Abfeiern des konventionellen, selbstironischen Krawalls Verhoeven auf den Leim gegangen ist.
Erst der Abspann verweist traditionell auf die Illusoren, die den eskapistischen Trip möglich gemacht haben. So auch hier: Der Soundtrack stammt vom Maestro Jerry Goldsmith und ist eine seiner besten Arbeiten, deren hypnotische Qualität spielend existenzielle Gefühle und Arnie-Action-Aggressionen vermitteln kann. Eric Brevig und Rob Bottin gilt währenddessen die Bewunderung für die verblüffend genialen Spezialeffekte und wunderbaren Studiokulissen, mit denen die Mars-Kolonie und ihre teils mutierten Bewohner zum Leben erweckt wurden. Und der deutsche Kameramann Jost Vacano sorgt für die ausgetüftelten Bildgestaltungen, die durch die Bank eine „wirkliche“ Immersion vermitteln. Magie gibt es eben wirklich und existiert nicht nur in Träumen. Nein, sie findet im Kino statt, sie ist ein Produkt der Traumfabrik. Im Falle von "Die totale Erinnerung – Total Recall" ein exzellentes Produkt. Nicht umsonst wurden die Motive des Films immer wieder aufgegriffen. Quaid bekam als Actionheld zu Beginn der 1990er noch eine rote Pille als Ausstieg aus seinem Ego-Trip durch die intergalaktische Spionage angeboten, am Ende des Jahrzehnts war es schließlich Neo, der Superheld aus „Matrix“, der zwischen einer blauen und einer roten Pille wählen durfte: Die eine, bei der Neo in seiner Realität verbleibt, und die andere, mit der er aus seiner Illusion erwacht. Wer beide Sci-Fi-Meilensteine einst im Kino sah, konnte sie hier 1999 bei "Matrix" wirklich erleben: Die totale Erinnerung.
Prejudice always obscures the truth.